Wie Jugendliche von Salafisten verführt werden
Experte Jochen Müller im Interview über radikale Prediger und Dschihadisten.
Bregenz. Der Islamwissenschafter Jochen Müller hat im Nahen Osten gelebt, war Redakteur und Autor. Seine Spezialgebiete: Kolonialismus, Nahostkonflikt, Islamfeindlichkeit, Islamismus, Salafismus sowie Islam und Schule. Müller ist Mitbegründer des Vereins Ufuq.de, der Radikalisierung in Schulen thematisiert. Kürzlich war er in Bregenz zu Gast. Im Gespräch mit den VN erklärt Müller, dass Rekrutierung weder mit Gehirnwäsche noch Manipulation zusammenhänge. Die Probleme lägen ganz woanders.
Wie groß ist die Gefahr, dass sich Jugendliche in Schulen oder anderen Jugendeinrichtungen radikalisieren?
Müller: Das Phänomen gibt es natürlich. Aber angesichts der Fallzahlen ist es nicht besonders groß. Es sind eher wenige Jugendliche, die sich am Salafismus oder gar gewaltorientierten Strömungen orientieren. Konflikte sollten nicht vorschnell durch eine Salafismusbrille betrachtet werden.
Warum schließen sich Jugendliche dem Salafismus an?
Müller: Es ist eigentlich kein Muster an Motiven erkennbar. Es sind einige dabei, die konvertieren. Die Gründe ähneln jenen der Zuwendung zum Rechtsextremismus oder zu nationalistischen Ideologien.
Die wären?
Müller: Die Suche nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Identität, wenn man so will. Oft spielen Familiengeschichten eine Rolle, sehr oft Diskriminierungserfahrungen. Salafisten docken da an und sagen: „Sie werden euch immer diskriminieren. Bei uns gehört ihr dazu, gemeinsam sind wir stark.“
Wie schnell kann sich ein junger Mensch radikalisieren?
Müller: Ich kenne kaum Beispiele für eine sogenannte Turboradikalisierung. Niemand wird von heute auf morgen und unbemerkt von seinem Umfeld radikal.
Welche Rolle spielt der Glaube?
Müller: Er ist nicht die Ursache von Radikalisierungen. Aber mit Glauben kann eine Ideologie legitimiert werden. Der Islam bietet genauso die Möglichkeit, ihn totalitär und kriegerisch zu interpretieren wie das Christentum. Salafismus bei Jugendlichen in Deutschland und Österreich hat jedenfalls weniger mit dem Islam, sondern vor allem mit Deutschland und Österreich zu tun.
Mit welchen Tricks arbeiten die Rekrutierer?
Müller: Da geht es nicht im Tricks, nicht um Brainwashing, Propaganda oder Manipulation. Nein, es geht um das Angebot. Jugendliche haben Bedürfnisse, Wünsche und Probleme. Und dann kommen Menschen, die ihnen ein Angebot machen. Insofern ist eigentlich nicht der Salafismus das Problem, sondern zu viele unbefriedigte Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen.
Warum ist der Islam für bestimmte Jugendliche so attraktiv?
Müller: Er gibt vielen Jugendlichen die Möglichkeit, dazuzugehören. Sie können auf etwas stolz sein und prima provozieren. Was früher der blaue Iro war, können heute ein langer Bart und ein langer Umhang sein. Das verschafft Aufmerksamkeit. Unsere Aufgabe in der pädagogischen Arbeit besteht oft darin, Provokationen als Gesprächsangebote zu verstehen. Meistens ist es der Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit, der dahintersteckt.
Dient nicht außergewöhnlich oft der Islam der Identitätsstiftung?
Müller: Ja, weil viele Jugendliche mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit einen muslimischen Hintergrund haben. Das ist doch völlig legitim. Christliche Gruppen machen ganz ähnliche Angebote. Auch Evangelikale bieten eine klare Gemeinschaft, Moral und vergleichsweise einfache Weltbilder.
Videos abgeschnittener Köpfe kennen wir aber derzeit nur von Dschihadisten.
Müller: Da spielen doch ganz andere Dinge eine Rolle. Ich würde das eher mit Amoktätern vergleichen. Junge Menschen, die nach Syrien ziehen, sind in der Regel religiöse Analphabeten. Sie möchten es allen anderen einmal so richtig zeigen, einmal im Leben obenauf sein, andere niedermachen, statt selber niedergemacht zu werden.
Unter den islamistischen Predigern gibt es richtige Popstars. Warum?
Müller: Ich würde zwischen eher moderaten und den gewaltorientierten Strömungen unterscheiden. Aber ja, es ist auch eine Form der Jugendkultur. Jugendliche sind auf der Suche, und dann kommt ein Pierre Vogel und rappt ihnen den Islam in 30 Sekunden. Das hat nichts mit Manipulation zu tun, Vogel bedient sich auf einfache Weise des Bedürfnisses nach Orientierung und Gemeinschaft. Das finden einige Jugendliche cool, auch wenn einer wie er den allermeisten muslimischen Jugendlichen voll peinlich ist.
Prediger wie Pierre Vogel sind vor allem im Internet erfolgreich. Welche Rolle spielt das Netz bei der Radikalisierung?
Müller: Die gleiche Rolle wie bei anderen Themen. Das Internet erreicht viel mehr Jugendliche als eine Moschee oder Kirche. Die Eltern haben oft keine Ahnung in religiösen Fragen oder sind für ihre in Österreich geborenen Kinder zu traditionell und herkunftsbezogen. Und der Imam fällt aus, weil er sich in den Lebenswelten der Jugendlichen nicht auskennt. Was machen die Jugendlichen? Sie suchen im Internet nach Antworten, wo sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf Pierre Vogel treffen.
Also sind doch Prediger wie er das Problem?
Müller: Nein, das Problem ist, dass es offenbar zu wenig andere Angebote gibt, in Sachen Religion und darüber hinaus. Wenn wir als Gesellschaft keine Antworten auf Fragen und Konflikte von Jugendlichen haben, dann kommen andere und geben ihre Antworten.
Auch Evangelikale bieten eine klare Gemeinschaft, Moral und vergleichsweise einfache Weltbilder.
Jochen Müller
Zur Person
Dr. Jochen Müller
Deutscher Islamwissenschafter, Radikalisierungsexperte, Mitbegründer des Vereins Ufuq.de. Er arbeitet mit Jugendlichen arabischer, türkischer und muslimischer Herkunft sowie mit Pädagogen in der schulischen und außerschulischen Jugendarbeit.