Es lebe die Leichtigkeit
Wer erinnert sich nicht gerne an seine besonderen Maturamomente. Ich zum Beispiel an diesen: Es war bei der mündlichen Matheprüfung. Ich musste diese machen, weil ich bei der schriftlichen versagt hatte. Da stand ich also während der Vorbereitung vor der großen Tafel, und ebenso wieder vor einem großen Problem. Bei der leichtesten Aufgabe hatte ich mich in etwas verrannt. Die Rettung kam in der Person von Ingrid, eine der besten Mathematikerinnen unserer Klasse. Sie ließ für den Geographieprüfling, der gerade dran war, eine Landkarte herunterrollen. Direkt vor der Tafel, wo ich vor mich hin schwitzte. Wir waren für einige Sekunden verdeckt. Das reichte. Ingrid riss mir die Kreide aus der Hand, löschte eine Zahl und setzte die richtige ein. Ich war gerettet.
Die besonderen Maturamomente konnte es für die diesjährigen Kandidaten nicht geben. Kein amüsantes Hoppala bei der Mündlichen, keine unvergessliche Episode beim Käpplefest, keine romantischen Verliebtheitserinnerungen beim Maturaball, keine aufregenden Sitzungen beim Konzipieren der Maturazeitung. Alles Dinge, die noch Jahrzehnte später Stoff für verklärte Erinnerungen an eine unvergessliche Zeit sind.
Nein, die Maturajahrgänge von 2020 und 2021 mussten mit der humorlosen Coronarealität zurande kommen. Sie konnten nicht diese spezielle Verbundenheit einer Maturaklasse entwickeln. Ihnen war es nicht vergönnt, erwähnte Rituale zu genießen.
Stattdessen bekamen sie einen Vorgeschmack darauf, was in ihrem nächsten und übernächsten Lebensabschnitt gefragt sein wird: Selbstständiges Handeln, Anpassungsfähigkeit an missliche Umstände, hohe Flexibilität und Selbstverantwortung. Schön und gut.
Ich beneide die Maturanten der vergangenen zwei Jahre dennoch nicht. Sie mussten sich den rauen Umständen der Realität unterordnen. Viele von ihnen wurden stark verunsichert. Sie wussten lange nicht, wie die Reifeprüfung angelegt sein würde. Sie hatten keine vorgegebene Struktur. Das Virus spielte mit ihnen Katz und Maus. Sie durften an die Schule, dann wieder nicht. Und wenn, dann nur in kleinen Gruppen. Sie mussten mit der Angst leben, vielleicht kurz vor Reifeprüfungsbeginn doch noch angesteckt zu werden und dann nicht antreten zu können.
Was ich euch, liebe Maturanten, jetzt zurufen möchte: Denkt für einmal nicht an den Ernst des Lebens. Vom dem gab’s für euch zuletzt genug. Holt euch zuerst etwas Leichtigkeit zurück, eine anständige Portion unbeschwerten Lebensgefühls und Gemeinschaft in Zeiten wiederkehrender Freiheiten.
Ihr habt es verdient.
„Denkt für einmal nicht an den Ernst des Lebens. Vom dem gab’s für euch zuletzt genug.“
Klaus Hämmerle
klaus.haemmerle@vn.at
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