Matura und die Emotionen
Corona hat die Matura verändert. Und wie. Da sagte mir ein langjähriger Kollege und bewährter Maturaprüfer im Fach Mathematik doch glatt: „Die Kandidatinnen und Kandidaten sind heutzutage nicht mehr völlig der Willkür unfähiger Kollegen ausgeliefert. Sie können sich selbst helfen.“ Der ehrenwerte Pädagoge meinte damit das reichhaltige digitale Angebot an Übungsmaterial samt Lösungen. Durch Corona sei dieses Angebot erst so richtig entstanden, reichhaltig und zweckgebunden. Jeder kann üben, unter detailgetreuer Anleitung und ganz ohne Lehrer.
Der digitale Pädagoge, oder nennen wir ihn besser Coach, hat übernommen. Er ist präzise, unbestechlich, korrekt, emotionslos. Er drillt und liefert. So wie wir das eben wollen. Auf Klick.
Alles schön und gut und zweckmäßig.
Doch bleiben wir beim Emotionalen. Bei allem Verständnis für Effizienz und Funktionalität: Was wäre Wissen ohne Begeisterung. Ohne die In-Brand-Setzung der Neugier, die uns auf der Gefühlsebene trifft und in ein Thema mit fast allen Sinnen versinken lässt. Dass trifft Lehrer gleich wie Schüler.
Gerne erinnere ich mich noch an das Thema Todesstrafe, das ich als Englischlehrer mit meinen Schülern abhandelte. Es gelang mir, mit einem Todeskandidaten im Todestrakt des Hinrichtungsgefängnisses von Huntsville, Texas, Kontakt aufzunehmen. Er schrieb mir mehrere lange Briefe. Diese Briefe diskutierten und analysierten wir in der Klasse. Nichts anderes mehr war für viele Stunden Thema. Lehrplan? Geplante Lehrstoffverteilung? Völlig egal. Nur das interessierte die Schüler, und – zugegeben – mich auch. Natürlich lieferte all das auch Futter für die Matura.
Niemals hätten wir uns mit der durchaus sinnvollen Zentralmatura von heute die Freiheit von damals leisten können. Das wäre aus Lehrersicht verantwortungslos gewesen. Bereitwillig räume ich ein, dass meine Schüler die modernen Kompetenzaufgaben von heute in Summe wohl nicht so gut gelöst hätten. Dafür hätten sie nicht das notwendige Rüstzeug erhalten.
Das Feld der Leistungsdarbietung mit unverwechselbarem individuellem Anstrich ist bei der Reifeprüfung von heute auf die mündliche Reifeprüfung geschrumpft. Dort können die Kandidaten bzw. Kandidatinnen nicht nur zeigen, was sie können, sondern wie nur sie es können.
Es war gut, dass die mündliche Matura trotz der Schülerproteste wieder stattfand. Als Zeichen des Weges zurück zur Normalität. Aber auch als einmalige Bühne für akademische Talente, die ihren Auftritt in diesem Rahmen nie vergessen werden.
„Niemals hätten wir uns mit der durchaus sinnvollen Zentralmatura von heute die Freiheit von damals leisten können.“
Klaus Hämmerle
klaus.haemmerle@vn.at
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