Bloß kein Mitleid
Lange, sehr lange ist es her, seit ich ihn zuletzt gesehen habe. Jahrzehnte sind ins Land gezogen. Doch während mein Leben die mehr oder minder üblichen Windungen nahm, wurde seines gründlich auf den Kopf gestellt. Es hat ihm, gelinde gesagt, übel mitgespielt. Von einem Tag auf den anderen machte ein Schlaganfall alle seine Pläne, die er wohl noch hatte, zunichte. Es sollte nicht der einzige bleiben. Gleich viermal schlug die Krankheit unbarmherzig zu. Ich kann mich erinnern, dass mir jemand irgendwann einmal davon erzählte. Doch es war so abstrakt, so weit weg. Entsprechend hohl und banal muss mein „das tut
mir leid“ geklungen haben. Dahingesagt, wie es halt üblich ist, und bald wieder vergessen, weil da noch ein Alltag ist, den es abzuwickeln gilt.
Unlängst sah ich ihn wieder. Da war nicht mehr viel übrig von dem Menschen von damals. Da saß ein anderer im Rollstuhl. Aber keiner, der sich gramgebeugt dem Schicksal ergeben hat, sondern einer, der sich ihm im Wissen um dessen Unabwendbarkeit gestellt hat. Sein Gesicht strahlte eine Ruhe und Freundlichkeit aus, die mich fast beschämte. Und die Anstrengung, die es ihn kostete, ein paar Worte mit mir zu wechseln: Ich hätte weinen mögen. Gleichzeitig ist mir eines bewusst geworden: Leute wie er verdienen kein Mitleid. Nein, sie verdienen Hochachtung. Denn wer das Leben trotz allem in dieser besonderen Gelassenheit annehmen kann, ist stark. Aber sie brauchen uns als Menschen, die da sind. Auf ganz unsentimentale Weise.
marlies.mohr@vn.at
Du hast einen Tipp für die VN Redaktion? Schicke uns jetzt Hinweise und Bilder an redaktion@vn.at.
Kommentar