Chronischer Schmerz wird erlernt

Schon kleine Eingriffe können in anhaltenden Schmerzzuständen enden.
Wien, Grado „Chronischer Schmerz ist kein plötzlich auftretendes Leiden, sondern eine aus akuten Symptomen heraus erlernte Krankheit. In Österreich sind bis zu 400.000 Menschen betroffen. Allein die direkten medizinischen Kosten liegen bei jährlich 1,4 bis 1,8 Milliarden Euro“, sagte der Kärntner Spezialist Rudolf Likar bei den Österreichischen Ärztetagen in Grado. In der EU verursacht der Schmerz jährlich rund 500 Millionen Krankenstandstage. Mehr als 100 Millionen EU-Bürger haben chronische Muskel- oder Skelettschmerzen“, zitierte Likar vom LKH Klagenfurt dramatische Zahlen.
Schmerzgedächtnis
Dabei wären ein Gutteil dieses riesigen Problems und viele der Katastrophen für die einzelnen Betroffenen vermeidbar. „Chronischer Schmerz wird erlernt. Je länger Schmerz besteht, umso mehr die Situation verschlimmernde Adaptionen lassen sich nachweisen“, sagte der Experte, bis vor Kurzem auch Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft. Durch anhaltende Schmerzzustände kommt es zu einem Schmerzgedächtnis, symptom-dämpfende Mechanismen in der Reizleitung und Reizverarbeitung werden geschwächt.
Zum Beispiel können schon kleine chirurgische Eingriffe in chronischen Schmerzzuständen enden. „Wir haben in Österreich pro Jahr rund 1,2 Millionen Operationen. Etwa zehn Prozent davon lösen chronische Schmerzen aus. Das sind pro Jahr 120.000 neue Patienten“, sagte Likar. Bereits eine dermatologische Intervention wie das Beseitigen eines Melanoms bewirke bei neun Prozent der Patienten solche Probleme. 20 Prozent der Patienten mit schweren Symptomen aus deutschen Schmerzkliniken gaben an, dass ihre schweren Beschwerden ursprünglich durch eine Operation ausgelöst worden seien. Hier müsse dringend darauf geachtet werden, dass keine chronischen Symptome entstünden, betonte der Fachmann. Eine wirksame, angepasste analgetische Therapie bei akuten Beschwerden könne das verhindern.
Likar hält die Situation rund um die Schmerzmedizin – so wie viele andere Experten – für andauernd schlecht. Für niedergelassene Ärzte gibt es weiterhin keine vertiefte Ausbildung in Schmerzmedizin. „Nicht einmal mehr in jedem Bundesland gibt es eine spezialisierte Schmerzklinik für multimodale Therapie für die am ärgsten betroffenen Patienten.“ Laut Experten sind in den vergangenen Jahren auch mehrere Ambulanzen für die Betroffenen an Krankenhäusern geschlossen worden.
Änderung in Sicht
Bisher haben die Krankenkassen chronische, sich vom ursächlichen Grund verselbstständigende Schmerzzustände nicht als eigenständige Krankheit anerkannt. Damit konnte argumentiert werden, dass die Versorgung solcher Patienten keine erstattungsfähige Leistung ist. Doch das dürfte sich in den kommenden Jahren ändern. „In der internationalen Krankheitsklassifizierung 11 (ICD-11; bisher ICD-10; Anm.) wird der chronische Schmerz eine eigene Diagnose darstellen. Das kann dann ab 2022 kodiert und abgerechnet werden“, stellte Likar fest. Somit könnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über diese Maßnahme eine Verbesserung in den Behandlungs- und Erstattungsmöglichkeiten bewirken.