Zwischen Bindung und Begehren

Gesund / 08.05.2020 • 10:23 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
Kerstin Vogg plädiert für ein Hinterfragen von Liebesidealen.
Kerstin Vogg plädiert für ein Hinterfragen von Liebesidealen.

Psychotherapeutin Kerstin Vogg erklärt Aspekte von Affären.

KOBLACH Sexuelle Untreue ist so alt wie die Menschheit, sie kommt in allen Kulturen vor. Liebesideale verändern sich und damit auch, was wir moralisch akzeptabel finden. Kerstin Vogg, Leiterin von Psychotherapie Vorarlberg beim IfS, ist in ihrer eigenen Praxis oft mit dem Phänomen von Außenbeziehungen konfrontiert.

 

Wie oft wird bei Ihren Klienten das Thema Außenbeziehung angesprochen?

VOGG Das Thema kommt sowohl in den Einzeltherapien als auch in den Paartherapien zur Sprache. Manchmal ist die offengelegte Affäre der Anlass für eine Paartherapie. Oftmals kommt das Thema erst im Laufe der Gespräche auf, in Form von alten Verletzungen, über die nicht mehr gesprochen wird.

 

Welche Gefühle entstehen beim betrogenen Partner?

VOGG Es sind meist sehr heftige Gefühle: Gefühle der Demütigung, Kränkung, Verlust, Abwertung bis hin zum Identitätsverlust und blanker Daseinsangst. Es entstehen Fragen wie: Was hat der, die andere, was ich nicht habe? Es macht Angst, den Kürzeren zu ziehen oder verglichen zu werden. Wir sind am verletzlichsten, wenn wir lieben.

 

Plädieren Sie für ein Bekenntnis einer Affäre?

VOGG Mir gefällt hier die Unterscheidung von Ulrich Clement zwischen einer Moral der Wahrheit und einer Moral der Konsequenzen. Die erste Form verficht das Prinzip und richtet sich nicht an den Menschen, während die Moral der Konsequenzen Verantwortung für die betroffenen Menschen nimmt und fragt, wem die Offenheit nützt.

 

Weshalb wird eine Außenbeziehung als bedrohlich wahrgenommen?

VOGG In unserem vorherrschenden romantischen Liebesideal sind Menschen auf der Suche nach der einzigen und ewig dauernden Liebe. Die sexuelle Exklusivität ist ein Grundpfeiler dieses Liebesideals. Mit diesen Bildern wachsen wir auf. Die Realität sieht aber anders aus. Wir reden heute von Lebensabschnittspartnern oder in der Sprache der Soziologen von serieller Monogamie. Wir haben das Bedürfnis nach Bindung und Geborgenheit und eine Sehnsucht nach dem Neuen. Affären sind nicht immer ein Beweis dafür, dass es in einer Beziehung nicht mehr stimmt.

 

Das bedeutet eine emotionale Diskrepanz?

VOGG Ja, es ist ein emotionaler Zwiespalt, der durch die Schwierigkeit, Bindung und Begehren auf ein und dieselbe Person zu richten, verursacht wird. Die meisten Menschen wünschen sich eine zuverlässige Beziehung, entkommen aber nicht der Paradoxie, dass mit der Sicherheit die Sehnsucht schwindet, nach dem Motto „Was man hat, begehrt man nicht mehr“. Erotik lebt ganz stark von dieser Spannung des Fremden.

 

Welche Möglichkeiten hat ein Paar, mit diesem Dilemma umgehen?

VOGG Ich denke, wir täten gut daran, unser Liebesideal dahingehend zu hinterfragen, ob es überhaupt erfüllbar ist. In der Regel wird nämlich am Ideal festgehalten und der Partner ausgetauscht. Vielleicht wäre es hilfreich, auch mal das Modell infrage zu stellen und nicht nur die Besetzung. Die ehrliche Auseinandersetzung mit dieser Widersprüchlichkeit und der Austausch darüber kann helfen, ein Verständnis für sich und das Gegenüber zu entwickeln und die Spannung besser auszuhalten. Es ist vor allem wichtig, den Partner nicht als Besitz zu betrachten, sondern ihm Freiräume zuzugestehen. Man muss nicht alles teilen. BI  

Zur Person

KERSTIN VOGG

Geburtstag 10. März. 1971

Wohnort Koblach

Beruf Leitung von Psychotherapie Vorarlberg, ifs