Belastbarkeit des Ärztenetzwerks: Werkzeuge vorhanden, aber keine Daten

Österreichs Wissenschaftler warnen vor einem Blindflug des Gesundheitssystems, weil Daten fehlen.
Ein langer Klick und ein Arzt verschwindet von der Vorarlbergkarte. Aus den bislang grünen Kreisen rundum, welche die Ärzte repräsentieren, werden schnell manche orange. Hat man sich für einen großen Kreis entschieden, auch schnell rot. In der oberen rechten Ecke dann der Hinweis: Einige Patienten haben nun keine Chance mehr auf einen Arzttermin. Sie zeigt: Wenn eine Praxis von heute auf morgen schließt, wird es schwierig für die Patienten und verbliebenen Ärzte.

Hinter der Karte steht das Complexity Science Hub Vienna (CSH) und die Medizinische Universität (MedUni) Wien. Die Aussagekraft der Karte für die aktuelle Situation ist begrenzt: Die vom Dachverband der Sozialversicherungen bereitgestellten Daten sind gut zehn Jahre alte Quartalszahlen. Auch war das Ziel, die grundsätzliche Machbarkeit eines solchen Prognosetools zu beweisen. Mit aktuellen Zahlen könnte man so jedoch lokale Überlastungen des niedergelassenen Bereichs vorhersehen und gegensteuern, ist Peter Klimek überzeugt. Er ist Assistenzprofessor für die Erforschung Komplexer Systeme an der MedUni Wien und bei CSH eingebunden.
Die Fragen zur Resilienz (Widerstandskraft) des Gesundheitssystems beschäftigen derzeit viele. In Vorarlberg waren Mitte März 20 niedergelassene Ärzte nicht tätig, entweder weil sie selbst infiziert und daher in häuslicher Isolation waren, oder weil sie aufgrund ihres Alters als Risikogruppe galten. Die Verantwortlichen von aks und Ärztekammer reagierten mit der Schaffung der beiden Infektionsambulanzen in Dornbirn und Bludesch. Hier wurden Ende April noch täglich insgesamt an die 70 Patienten behandelt, vor allem Erwachsene. So konnte man das Risiko weiterer Ordinationsschließungen aufgrund von Covid19 stark reduzieren. Inzwischen wurden die Infektionsambulanzen aufgrund der rückläufigen Patientenzahlen in Röthis zusammengeführt.
Covid19-Tool für Ärzte https://csh.ac.at/covid19/healthcare/
Resilienz des Vorarlberger Ärztenetzwerkes https://csh.ac.at/vis/med_public/pcn-resilience/
“Im Moment ist die Situation so neu, dass uns schlicht Erfahrungswerte fehlen“, weiß Klimek. “Aus allem, was jetzt passiert, können wir lernen. Aber dafür braucht die Wissenschaft endlich den versprochenen Zugang zu Daten. Es wäre höchst fahrlässig, die Folgen von Entscheidungen jetzt nicht laufend evidenzbasiert zu bewerten.” Für die niedergelassenen Ärzte in Österreich gibt es nun unter https://csh.ac.at/covid19/healthcare/ eine Karte mit Informationen zur Ärztedichte, Anteil der Risikopatienten an ihrer Bevölkerung und Fallzahlen.

Neben dem Arztgeheimnis ist die Herausgabe von (anonymisierten) Gesundheitsdaten ein heikles Politikum, auch für die Wissenschaft. Vonseiten des CSH warnt man jedoch: Gerade Ältere und Vorerkrankte meiden derzeit die Praxen und Kliniken, da sie eben als Risikogruppe gelten. “Arztbesuche fanden sich nicht auf der Liste der dringenden Gründe, das Haus zu verlassen”, betont Klimek. Damit drohe jedoch eine Unterversorgung dieser Menschen mit ganz eigenen Langzeitfolgen. Um diese einschätzen zu können, fehle der Zugang zu Daten. “Wir müssten über Vorerkrankungen, Lebensstil- und Umweltfaktoren, eingenommene Medikamente oder über Alter und Geschlecht Bescheid wissen“, kritisiert die ebenfalls für CSH tätige Altersmedizinerin Alexandra Kautzky-Willer. “Je mehr Daten die Forschung bekommt, umso eher können wir schwere Verläufe prognostizieren. Das hilft uns für die nächste Covidwelle. Ohne dieses Wissen sind wir im Blindflug unterwegs und ganz sicher nicht evidenzbasiert.”
CSH Vienna
Der Complexity Science Hub Vienna ist ein Verein zur wissenschaftlichen Erforschung komlexer Systeme mehrerer österreichischer Universitäten. Der Hub wurde 2015 gegründet und hat seinen Sitz in Wien. Mitglieder sind die TU Wien, die TU Graz, Die MedUni Wien, das Austrian Institute of Technology, wie WU Wien und das Internationale Institut für angewandte Systemanalyse (beide seit 2016) wie auch die Universität für Weiterbildung Krems seit 2018.