Die App als Therapeut

Digitalisierung könnte Gesundheitsversorgung leistbarer machen.
St. Gallen Gemeinsam mit drei Co-Autoren hat Prof. Elgar Fleisch in seinem Buch „Die digitale Pille“ eine Reise in die Zukunft des Gesundheitssystems unternommen. Es soll aufzeigen, wie sich Kosten und eine bessere Gesundheitsversorgung auf digitaler Basis in Einklang bringen lassen. Das Buch wird am 10. Februar 2021 auf der virtuell stattfindenden Leipziger Buchmesse präsentiert.
Welche Überlegungen führten zu diesem Buch?
Fleisch Aus unser eigenen Forschung haben wir gelernt, wie das Internet, vernetzte Sensoren, Mobiltelefone und künstliche Intelligenz Menschen gerade bei chronischen Erkrankungen helfen können. Nachdem ich immer wieder auch von Krankenkassen und Patientenorganisationen auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen allgemein angesprochen wurde, wollte ich mir einen Überblick verschaffen und die neue Welt rund um chronische Erkrankungen verstehen. Das alles hat meine Co-Autoren und mich bewegt, das Buch zu starten.
Spielte die Coronapandemie auch eine Rolle?
Fleisch Das Buch hat mit Corona grundsätzlich nichts zu tun. Es ist Ergebnis einer Arbeit, die wir vor über zwei Jahren gestartet haben, in der wir Hunderte von Firmen, die in der Digitalisierung des Gesundheitswesens tätig sind, analysiert und 25 Muster entwickelt bzw. beschrieben haben. Natürlich sind nun alle durch Corona etwas offener gegenüber der Digitalisierung geworden. Von daher, meine ich, kommt das Buch genau zum richtigen Zeitpunkt.
Sind die Patienten schon bereit, die digitale Pille zu schlucken?
Fleisch Für uns Autoren ist die digitale Pille ein symbolischer Begriff. Es geht um eine Darstellung dessen, wie die Digitalisierung das Gesundheitswesen verändert, und da gibt es sehr viele verschiedene Formen. Es wird immer Patienten und Ärzte geben, die sagen, das braucht kein Mensch, und solche, die alles mitmachen. Uns interessiert die breite Masse, und da ist für mich schon klar: Wenn etwas via Handy oder Laptop einfacher und kostengünstiger wird und eine neue Qualität bekommt, wird es früher oder später auch verwendet. Was mir in diesem Zusammenhang aber sehr wichtig ist zu sagen: Ein digitaler Therapeut wird den Arzt nie ersetzen. Er kann nur ein verlängerndes Werkzeug sein.
Auch bei Ärzten bestehen noch Vorbehalte.
Fleisch Die Vorbehalte hängen damit zusammen, dass das Verrechnungsmodell oft nicht stimmt. In vielen Ländern kann heute nur der klassische Mitteleinsatz wie die Sprechstunde oder das Medikament verrechnet werden. Das Behandlungsergebnis geschweige denn die Prävention zählen noch nicht.
Es gibt immer noch Menschen ohne Internetzugang.
Fleisch Natürlich gibt es Gegenden und Gesellschaftsschichten, die über kein Internet verfügen. Das heißt aber nicht, dass man die Digitalisierung des Gesundheitswesens deswegen stoppen kann oder soll. Über die Zeit wird nahezu jeder einen digitalen Zugang haben und damit einen leistbaren Zugang zu einer guten medizinischen Grundversorgung.
Wie sieht es bei digitalen Therapeuten mit der Therapietreue aus?
Fleisch Ein wichtiges Thema. Gehe ich heute zum Arzt, bekomme ich in durchschnittlich sieben Minuten ein paar gute Tipps und muss mich zu Hause monatelang alleine selbst motivieren. Eine gute digitale Therapie ist so ausgerichtet, dass sie mich laufend anspornen kann, auch weil der Arzt mitbekommt, was ich tu oder eben nicht tu. Ich bin also in einem viel engmaschigeren Betreuungszyklus als es in einer reinen offline-Welt machbar ist. Nur mit der digitalen Variante ist das leistbar.
Wie weit ist die Realität noch vom Buch entfernt?
Fleisch Keine einzige Geschichte in diesem Buch wurde erfunden. Wir haben nur genau geschaut, was passiert wo auf der Welt. Alles, was wir in diesem Buch beschrieben haben, ist bereits da und wird sich irgendwann zu einem größeren Ganzen zusammenfügen. Die größte Kraft auf dieser Erde ist die Evolution. Wir beschreiben einen Teil dieser Evolution.
Gibt es auch Gefahren?
Fleisch Ein großer Knackpunkt ist die Datensicherheit. Diesem Thema ist deshalb auch ein eigenes Kapitel im Buch gewidmet. Die Medizin ist eine empirische Wissenschaft. Einfach gesagt: Je mehr gute Daten, umso besser die Medizin. Das Generierung und Sammeln von Daten ist das Herz des medizinischen Fortschritts. Die Forschung und Medikamentenentwicklung macht das einerseits in sehr aufwendigen klinischen Studien…
…und andererseits?
Fleisch Andererseits vernichten wir gefühlte 99 Prozent aller Daten, die im medizinischen Alltag entstehen. Wir gehen mit der wertvollsten Ressource der Medizin erstaunlich leichtfertig um. Eigentlich müssten wir unsere medizinischen Daten selber besitzen, sorgfältig sammeln und hüten. Dann könnten wir den Ärzten unseres Vertrauens Zugriff gewähren, und wir könnten die Daten in anonymisierter Form für Forschung spenden. Für Forschung, von der wir oder unsere Kinder und Enkel wieder profitieren. Diese Haltung lässt sich aber nur vertreten, wenn die Daten sicher sind.
Welchen Beitrag soll das Buch dazu leisten?
Fleisch Ziel wäre es, dass das Buch zur positiven Weiterentwicklung des Gesundheitssystems beiträgt, dass mehr Menschen in eine bessere medizinische Betreuung kommen bzw. gar nicht erst krank werden, und das alles zu leistbaren Kosten. VN-MM

Zur Person
Prof. Elgar Fleisch
Geboren 1968 in Bregenz
Ausbildung Studium der Wirtschaftsinformatik in Wien, 1993 Dissertation im Bereich Künstliche Intelligenz, 2000 Habilitation am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen
Beruf Professor für Informations- und Technologiemanagement an der ETH Zürich und der Universität St. Gallen
Familie verheiratet, vier Kinder