Ein Weckruf an die Erinnerung

Am LKH Feldkirch gibt es das Angebot eines Intensivtagebuchs.
Feldkirch Seit Anfang April gibt es auf der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am LKH Feldkirch das Angebot, Patienten mit einem Tagebuch persönlich zu begleiten: Das Intensivtagebuch ist ein Dokument, das während eines Intensivaufenthalts nach und nach entsteht. Die Einträge werden – je nach Zeit und Anlass – vom ärztlichen und pflegenden Personal sowie von Angehörigen verfasst. Die Patientin oder der Patient kann das Intensivtagebuch später lesen und damit persönliche Erfahrungen und Erlebnisse in der Zeit während des Spitalsaufenthalts besser verstehen. Es unterstützt nachweislich bei der Verarbeitung dieser Ausnahmesituation und hilft dabei, Erinnerungslücken zu schließen.
Zwei Monate lang war Hannes Schönacher ohne Erinnerung, wie er es nennt. Zwei Monate lang ist er, der selbst Intensivpfleger am Landeskrankenhaus Feldkirch ist, nach einem Unfall intensivmedizinisch betreut worden. Zwei Monate lang haben Ärzte, Pflegepersonal, Therapeuten, Angehörige und Freunde sein Leben dokumentiert – in einem Intensivtagebuch, das aufgrund der guten Erfahrungen mit Anfang April ganz offiziell auf der Station eingeführt wurde.
Aufenthalt besser verstehen
Das Intensivtagebuch ist keine neue Erfindung, sondern im deutschen Raum bereits wissenschaftlich auf seine Wirksamkeit hin untersucht worden. „Es unterstützt Patienten nach dem Intensivaufenthalt bei der Verarbeitung dieser Zeit und hilft auch dabei, Erinnerungslücken zu schließen“, erklären die Initiatorinnen Maria Brauchle und Magdalena Vogt. Die beiden Intensivpflegerinnen waren im Team, das sich auch um Hannes Schönacher gekümmert hat: „Wir waren erst in der Planungsphase des Tagebuchs. Eine Kollegin wusste davon und ist an uns herangetreten, ob wir bei Hannes das Tagebuch ausprobieren könnten.“ So hat das Team mit den ersten Einträgen für den Verunglückten begonnen. Dieser selbst kann sich nämlich an gar nichts mehr erinnern: „Nicht einmal an die Tage vor meinem Unfall“, erzählt er.
Passiert ist das Unglück bei einer Klettertour in der Schweiz. Hannes Schönacher hat fast 20 Jahre Erfahrung und schon viele Touren gemacht. Am Unglückstag im Juni 2020 sind sein Kletterfreund und er aus rund 15 Meter Höhe über felsiges Gelände abgestürzt: „Ich bin schwer verletzt im Bach liegen geblieben. Mein leicht verletzter Kollege hat mich über Wasser gehalten. Er konnte nach Hilfe schreien, rund eine halbe Stunde später hat man uns geborgen. Ab diesem Zeitpunkt war ich ohne Bewusstsein.“ Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Blutungen und mehrfache Knochenbrüche haben den Intensivpfleger ans Bett gefesselt: zwei Wochen auf der Intensivstation in Feldkirch, danach auf der Neurologie in Rankweil: „Auch an Rankweil habe ich keine Erinnerung. Nur durch das Intensivtagebuch weiß ich, wie ich mich in der Zeit verhalten habe, wie es mir körperlich ergangen ist, wie und wann ich Fortschritte gemachte habe. Ich habe mich sehr gefreut, dass ich offensichtlich bald wieder in der Lage war, blöde Sprüche loszulassen“, sagt Hannes Schönacher und lacht. „Es hat also auch amüsante Ereignisse gegeben, und das freut mich besonders.“
Belastungen reduzieren
Die Erfahrungen und mehrere internationale Studien zeigen, dass Symptome von psychischen Belastungen, wie Ängste, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen durch das Lesen des Tagebuchs (bei Patientinnen und Patienten) bzw. durch das Schreiben (bei Angehörigen) reduziert werden. „Natürlich ist keiner im Team oder von den Angehörigen dazu verpflichtet, Tagebucheinträge zu verfassen. Es ist ein Angebot“, erklären Brauchle und Vogt. „Und es müssen auch keine handschriftlichen Einträge sein, es können genauso Kinderzeichnungen hineingelegt werden. Angehörige haben auch die Möglichkeit, zu Hause zu schreiben. Manche möchten vielleicht sehr private Ereignisse festhalten und diese erst im Nachhinein ins Intensivtagebuch einheften.“
Vorgesehen ist, ein Tagebuch dann anzulegen, wenn Beatmung oder Sedierung voraussichtlich mehr als drei Tage dauern werden sowie bei vorübergehender Bewusstlosigkeit. Das Intensivtagebuch ist nicht Bestandteil der Patientenakte. Die Aufzeichnungen dienen ausschließlich dazu, Erlebnisse und Eindrücke später besser nachvollziehen können. Im Todesfall wird das Tagebuch an die Angehörigen ausgehändigt. Diagnosen und medizinische Prognosen unterliegen der Schweigepflicht.
Tagebuch weitergeführt
Hannes Schönacher hat sein Tagebuch selbst weitergeführt, als er dazu in der Lage war, hat seine Erfolge und Übungen während der Reha festgehalten. „Ich bin sehr stur. Ich wollte und will wieder fit werden. Es wird jeden Tag besser. Auch zwischendurch blättere ich das Tagebuch immer wieder durch. Es gibt mir einfach etwas Handfestes, auf das ich zurückgreifen kann. Seit Anfang des Jahres bin ich so weit, dass ich Schritt für Schritt wieder in den Arbeitsprozess im Krankenhaus eingebunden werden kann. Jeden Monat wird es ein bisschen mehr.“ Und: Vergangene Woche war Hannes Schönacher zum ersten Mal wieder klettern.
