Angst begründet oft Essstörungen

Zudem besteht ein hoher sozialer Druck, den „richtigen“ Körper zu haben.
Bregenz „Noch nie war das Interesse von Privatpersonen im Vorfeld so groß.“ Jasmin Neumayer organisiert seit Jahren die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs und konnte mit Prof. Günter Reich einen renommierten Experten zum Thema Essstörungen gewinnen. Essstörungen hätten in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen und aufgrund der Corona-Pandemie einen neuerlichen Schub erhalten. „Dies betrifft sowohl zu viel essen als auch extrem kontrolliertes Essen“, erklärte Reich, leitender Psychologe der Ambulanz für Familientherapie und Essstörungen der Universitätsmedizin Göttingen.
Ursachen für Essstörungen
Essstörungen hätten nie nur eine Ursache. Immer würden bei der Entwicklung mehrere Einflüsse zusammenwirken. Neben Genen und Persönlichkeit spielen laut Reich Adoleszenz, Medien und Peergroup sowie die familiäre Atmosphäre eine Rolle. Merkmale für Störungen des Essverhaltens sind, wenn es angstbesetzt, rigide und/oder chaotisch, sehr stimmungs- und gewichtsabhängig ist und als Mittel zur Stressbewältigung verwendet wird. Gesellschaftlich sei der Druck, den „richtigen“ Körper zu haben, sehr hoch. „Menschen wollen immer dünner werden“, kommentiert der Psychologe eine Entwicklung, die in einem „kollektiven Diätverhalten und Fitnessprogrammen“ mündet. Während allerdings die soziale Gewichtsnorm stetig niedriger wurde, nahm das durchschnittliche Körpergewicht zu. Mit dieser sozialen Körpernorm geht laut Reich eine moralische Bewertung einher. „Wer nicht schlank und muskulös ist, gilt als schlaff, undiszipliniert, faul, wenig leistungsfähig.“
Schwere gesundheitliche Folgen
Essstörungen sind nicht einfach nur Schwierigkeiten mit dem Essen. Immer seien Essstörungen komplexe psychosomatische Erkrankungen, die unbehandelt eine hohe Chronifizierungsrate haben und nicht von selbst weggehen. Die gesundheitlichen Folgen können schwerwiegend sein. „Bei Mädchen ist Magersucht in der Jugend die häufigste Todesursache“, weist Reich auf eine erschreckende Tatsache hin. In der Regel seien Essstörungen mit anderen seelischen Erkrankungen wie Depression, Sucht, Zwangs- und Angststörungen verbunden. In sehr auf das Aussehen und Fitness fokussierten Familien kämen Essstörungen öfter vor.
Geduldiger Umgang
Jugendliche mit Essstörungen würden sehr ungern in die Behandlung kommen. Dahinter stecken ausgeprägte Schamgefühle und oft keine Krankheitseinsicht. Wesentlich sei deshalb, eine Behandlungsmotivation zu schaffen. Besonders bewährt habe sich bei Jugendlichen mit Essstörungen die Familientherapie. „Hinter einer Essstörung stecken immer viele Unsicherheiten und Ängste“, so der Fachmann. „Wichtig ist das Vertrauen in die Behandlung. Die Jugendlichen spüren: Da ist jemand da, der mich versteht, aber auch jemand, der mein Verhalten als gefährlich einstuft.“ Die Ängste ernst nehmen, Ambivalenz und Unentschlossenheit thematisieren, sei Aufgabe von Fachleuten. Wie können aber nun Familie und Freunde mit Betroffenen umgehen? „Sie ernsthaft auf die Veränderungen ansprechen, aber nicht darauf herumreiten“, rät Reich. Abwertende Kommentare wie „Du schaust ja aus wie der letzte Hungerhaken“ sollten auf jeden Fall vermieden werden. Stellung beziehen, den eigenen Standpunkt klarmachen, heiße die Devise. Dies habe „mit Takt und Empathie, aber fest und klar“ zu geschehen. Im an den Vortrag anschließenden Chat wurden auch die langen Wartezeiten für einen Beratungstermin kritisiert. Reich verweist hier auf durchaus gute Online-Beratungen, die zumindest zur Überbrückung in Anspruch genommen werden sollten. Ansonsten gäbe es nur eine Lösung: Mehr Therapie- und Beratungsplätze schaffen!
„Wer nicht schlank und muskulös ist, gilt als schlaff, undiszipliniert und faul.“

Der Vortrag kann in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs auf www.vorarlberger-kinderdorf.at nachgehört werden.
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