Mit Herz und Verstand
Sie reckte mir die geballte Faust entgegen, ich reichte ihr meine offene Hand. Ein kurzer Augenblick der Irritation und Unsicherheit, dem schließlich ein Schmunzeln und die inzwischen beinahe alltägliche Frage folgte: „Dürfen wir oder dürfen wir nicht?“ Wir beschlossen für uns: „Wir dürfen!“ Nämlich so, wie es vor Corona gang und gäbe war, einander gepflegt die Hand schütteln. Die Infektionen gehen zurück, was, zugegebenermaßen vermutlich zu einem Gutteil den ebenfalls rückläufigen Testfrequenzen geschuldet ist, warum also nicht die Gunst der Stunde nützen, um wieder ein bisschen mehr zueinanderzufinden, und die Fäuste für einmal in der Jackentasche oder wo auch immer zu lassen. Auf Abstand sind wir schließlich lange genug gegangen.
Wobei das jetzt natürlich nicht als Aufruf verstanden werden soll, einander kollektiv und ungesehen um den Hals zu fallen. Eigenverantwortung und Hausverstand sind auch in locker-luftigen Zeiten wie diesen weiterhin gefragte Eigenschaften. Jeder darf und sollte aber für sich persönlich abwägen, wie weit und in welcher Form er sich einer anderen Person nähert. Das verlangt klarerweise ach ein entsprechendes Maß an Fingerspitzengefühl, weil das Gegenüber in den meisten Fällen ebenso unsicher ist wie man selbst. Zwei Jahre von oben verordneter Distanz haben ihre Spuren hinterlassen. Ganz abgesehen davon, dass auch die gültigen Vorgaben kaum noch durchschaubar sind. Was heute noch zählt, kann bekanntermaßen morgen schon wieder Makulatur sein.
Entscheiden wir also mit Verstand, aber auch Herz, wenn es um die Nähe zu anderen Menschen geht. Damit fährt es sich immer gut, selbst durch einen überwucherten Verordnungsdschungel.
Marlies Mohr
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