Über den großen Verweigerer der Literaturgeschichte

Elke Heidenreich widmet sich beim Literaricum Lech dem Protagonisten Bartleby von Herman Melville.
LECH Beim diesjährigen Literaricum Lech steht der Roman von Herman Melville „Bartleby, der Schreiber“ ganz zentral. Bartleby ist der erste Antiheld der modernen Literaturgeschichte – eine kafkaeske Gestalt, bevor Kafka selbst sie erfunden hatte.
Mit dem tieftraurigen, sanftmütigen Bartleby schuf Herman Melville eine Figur, die weltberühmt wurde und trotzdem bis heute Rätsel aufgibt. Die Eröffnungsrede beim diesjährigen Literaricum wird von Elke Heidenreich, Schriftstellerin, Literaturkritikerin, Moderatorin, Journalistin, Opern-Librettistin und Literaturvermittlerin, zur Aktualität der Figur des Bartleby gehalten.
Bartleby ist einer der interessantesten Charaktere der Literaturszene des 19. Jahrhunderts. Woraus resultiert die anhaltende Faszination für diesen Protagonisten?
HEIDENREICH Man muss sich schon trauen, zu allen Anmutungen zu sagen „ich möchte lieber nicht“. Er traut sich. Bartleby verweigert sich komplett. Letztlich verweigert er sich damit ganz und gar dem Leben selbst und da wird die Sache schon wieder kritisch. Ab und zu Nein zu sagen ist vielleicht ganz gesund, aber immer – das führt ins Nichts.
Bartleby wurde durch seine Arbeitsverweigerung zu einem Schutzheiligen der Nonkonformisten. Sehen Sie ihn als tragischen Anti-Helden oder eher als unbeugsamen Amerikaner?
HEIDENREICH In einer Zeit, in der uns Impfverweigerer zu schaffen machen, ist ein konsequenter Nein-Sager heikel. Ich sehe Bartleby gar nicht als Nonkonformisten. Sondern als einen zutiefst einsamen, verstörten Menschen, der jeden Sinn in Tun und Leben verloren hat. Eher tragisch als unbeugsam also.
Würde man die Figur des Bartleby nach heutigen Kriterien der Psychologie beurteilen, wäre er wohl dem Autismus zuzuordnen.
Können Sie beurteilen, aus welchen Gründen seine Verweigerungshaltung entstand?
HEIDENREICH Wir wissen, dass er, ehe er in diese Anwaltskanzlei kam, in einem Dead Letter Office arbeitete, also einer Sammelstelle für nicht zustellbare Briefe. Das muss etwas tief Verstörendes gehabt haben. Es hat ihn wohl mit Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit infiziert. Er wird uns aber auch als bleich, stumm, mechanisch geschildert. Eine psychische Störung liegt meiner Meinung nach eher vor als die Idee, er könnte ein störendes Rädchen im funktionierenden Getriebe sein wollen. Er kann nicht anders.
Der Roman ist zu Beginn der Industrialisierung situiert. Die Leblosigkeit am Arbeitsplatz von Bartleby entspricht den realen und gesellschaftlichen Mauern in dieser Zeit, was durch die unterschiedlichen Protagonisten verdeutlicht wird. Welchen Bezug können wir zur aktuellen Situation im Arbeitsleben herstellen?
HEIDENREICH Eine Verweigerungshaltung ab und zu kann vielleicht ganz guttun, um dem Einerlei zu entkommen. Das heißt, man muss nicht alles mitmachen, was einem angedient wird. Das ist aber eine feine Balance, die es einzuhalten gilt zwischen den Pflichten, einem gewissen Funktionieren, und doch der Selbsterhaltung und des eigenen Willens. Nicht ganz leicht.
Inwieweit finden Sie in dem Roman „Bartleby, der Schreiber“ persönliche Berührungspunkte?
HEIDENREICH Mich macht zunehmend wütend, dass wir immerzu glücklich sein sollen. Tee soll uns froh machen, Kosmetik, Klamotten, sogar unser Haarshampoo. Der ganze Konsum ist auf Selbstoptimierung ausgelegt. Da tut es gut, mal zu sagen: ich möchte lieber nicht. Ich will jetzt einfach nur à la Loriot hier sitzen und mich gerade mal nicht optimieren. Verweigerung im Kleinen. BI
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