Thomas Matt

Kommentar

Thomas Matt

Die im Verborgenen

Heimat / 26.07.2022 • 16:39 Uhr / 2 Minuten Lesezeit

So sehr hat sie das Theaterstück irritiert, dass die ältere Dame regelrecht Mühe hat mit ihrem Fahrradschloss. „Das war wieder … so ein Stück“, murmelt sie und nestelt an den Zahlenringen. Wie war denn die Aufführung? Modern? Verrückt? Sie lächelt entschuldigend. Wohl von allem reichlich. Drinnen verebbt der Premierenapplaus. In ihren Gedanken aber geistert noch heftig herum, wofür sich Schauspieler und Regisseur nach zwei schweißtreibenden Stunden erleichtert verbeugen.

Sie saß oben am Rang, weit hinten. Trug – der Premiere angemessen – ein „gutes Kleid“ und eine Brosche dazu. Sie fiel auf, weil rundum Jeans und T-Shirts den Ton angaben. Und der Shakespeare? Hat sich auch verändert. Als der Hauptdarsteller mal kopfüber in den Seilen hängend seinen Text deklamiert, stiehlt sich ungläubiges Erstaunen in ihr Gesicht.

Sie habe wohl nicht alles verstanden, redet sie sich später klein. Jetzt müsse sie erst mal über alles nachdenken. Steigt auf und radelt davon. So unscheinbar. Und doch lugt aus ihrer Handtasche im Fahrradkorb ein kleines, gelbes Reclam-Heft hervor und straft ihre Bescheidenheit Lügen. Vermutlich hat sie mehr verstanden als der ganze Strom durstiger Damen und Herren, der sich jetzt laut schwatzend in die angrenzenden Gastgärten ergießt.

Thomas Matt

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