Wie eine junge Familie ihre Heimat verlor

Die jüdische Familie Pilpel war gesellschaftlich etabliert. Dann kamen die Nazis an die Macht.
Hohenems Am 10. Oktober 1932, also vor rund 90 Jahren, kam mit Nina Pilpel letztmals vor dem Zweiten Weltkrieg eine Person jüdischen Glaubens in Hohenems zur Welt. Die VN-Heimat und das Jüdische Museum Hohenems beleuchten in ihrer gemeinsamen Reihe Jüdischer Lebensgeschichten aus Hohenems in drei Teilen sowohl Nina Pilpels Lebensweg, als auch die Geschichte ihrer Eltern, den tragischen Tod ihres Bruders und schließlich ihre Rückkehr nach Hohenems im neuen Jahrtausend.
Ninas Vater Franz Josef Pilpel, der 1928 sein Studium im Bereich der chemischen Technologie an der Universität Wien mit der Dissertation abgeschlossen hatte, war im Oktober desselben Jahres nach Hohenems übersiedelt, um seine Arbeit als Chemiker bei der Firma Neumann & Söhne anzutreten.
In Hohenems gut integriert
Mit seiner späteren Ehefrau Marion Stern, die wie er 1905 in Wien geboren wurde, war er zu dieser Zeit wohl schon länger befreundet. Sie besuchte von 1919 bis 1922 die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Wien und belegte Kurse in der Abteilung Fotografie und Reproduktionsverfahren. Nach der Hochzeit, die am 27. Juni 1929 in der Synagoge in der Wiener Josefstadt gefeiert wurde, kam nun auch Marion Pilpel nach Vorarlberg. Das Ehepaar bezog eine Wohnung in der Kaiser-Franz-Josef-Straße 74, nur einige hundert Meter von seinem Arbeitsort am Gelände der ehemals von der Familie Rosenthal geführten Fabrik entfernt.
Franz Pilpel trat in der Hohenemser Gesellschaft schnell in Erscheinung und gab im Mai 1929 in den Zwischenpausen des Konzerts der Chorvereinigung von Arbeitergesangsverein „Liebesfreiheit“ Feldkirch und dem Hohenemser „Nibelungenhort“ sein Können als Pianist zum Besten.
Ein Könner im Schach
In den Schachklub, zu dessen Gründungsmitgliedern 1926 auch Harry Weil zählte, wurde er im Jänner 1929 aufgenommen und errang ein Jahr später sogleich den 1. Platz im klubinternen Meisterturnier. Der stets als Dr. Pilpel geführte Freund des Schachspiels nahm in den 30er Jahren auch an vorarlbergweiten wie auch überregionalen Turnieren teil. 1934 erreichte er in der Landesmeisterschaft den 4. Rang, wodurch er sich für die „Österreichische Schacholympiade“ qualifizierte. Und 1935 gelang es ihm mit seinen Kollegen sogar erstmals, den Schachklub Bregenz zu besiegen. Franz Pilpel engagierte sich auch bald im Vorstand des Schachklubs und bekleidete zuletzt das Amt des Kassiers.
Mitgliedschaft verboten
Nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 wurde Jüdinnen und Juden bald die Mitgliedschaft in Vereinen verboten, wovon auch Pilpel betroffen war. Dem Protokoll der Jahreshauptversammlung vom 22. April 1938 ist zu entnehmen, dass Pilpel aus dem Schachklub „ausgetreten“ sei und der Verein ihn entlastete, da „die Kassa in vollster Ordnung“ vorgefunden wurde. Wie alle in Hohenems verbliebenen Mitglieder der israelitischen Kultusgemeinde mussten zum Ende des Jahres auch Franz, Marion und Nina Pilpel neue Kennkarten beantragen. Es sollte danach nur wenige Wochen dauern, bis sie Vorarlberg verließen. Während Franz Pilpel über Italien die Flucht mit dem Ziel Schanghai wagte, zogen seine Frau und Tochter im Februar 1939 zu Marions Eltern nach Wien.
Wien-Budapest-Bombay
Zurück in der elterlichen Wohnung, die sich nach wie vor in der Neustiftgasse in Wien Neubau befand, bereitete sich Marion Pilpel mit ihrer Tochter Nina nun darauf vor, ihrem Mann nachzureisen, der es inzwischen nach Indien geschafft hatte. So berichtete Nina in ihren Lebenserinnerungen vom letzten Sommer in Österreich und geht dabei darauf ein, dass sie und ihre Mutter mit großen Anlaufschwierigkeiten versuchten, die englische Sprache zu erlernen.
Auch an die vielen Verbote für Jüdinnen und Juden, die sie mit ihrer Tante Gerda (Marions Schwester) teilweise zu umgehen versuchte, erinnerte sie sich in ihren Aufzeichnungen lebhaft. Zudem schrieb sie sehr detailreich über den Abschied von ihren Großeltern, die, wie auch ihre Tante Gerda, 1942 im Konzentrationslager Izbica ermordet wurden.
Wieder vereint
Am 12. August 1939 floh sie mit ihrer Mutter von Wien zunächst nach Budapest, um dort noch am selben Tag eine Maschine der niederländischen Fluglinie KLM zu besteigen, die sie nach Bombay, die heute Mumbai genannte indische Hafenstadt, bringen sollte. Über die genaue Zahl an jüdischen Flüchtlingen, die in der damals noch britischen Kolonie Aufnahme fanden, lässt sich der Historikerin Dr. Margit Franz zufolge keine definitive Aussage treffen. Sie schätzt jedoch, dass es rund 5000 Personen gewesen sein dürften, die zumindest bis zur Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1947 am indischen Subkontinent lebten.
Bombay sollte aber nur eine Zwischenstation für Familie Pilpel werden. Mehr dazu in Kürze in der VN-Heimat. RAE
