Draußen wartete das Leben auf mich

Kultur / 20.02.2015 • 18:57 Uhr / 16 Minuten Lesezeit
Philosoph Rene Descartes (1596–1650): „Nennen Sie den großen Meister bei seinem lateinischen Namen: Cartesius, nomen est omen“.  Foto: dpa
Philosoph Rene Descartes (1596–1650): „Nennen Sie den großen Meister bei seinem lateinischen Namen: Cartesius, nomen est omen“. Foto: dpa

Mein Zug fuhr in den Hauptbahnhof ein, mein Schuh berührte den Boden der Hauptstadt. Es war nur ein kleiner Schritt, doch vielleicht würde noch ein großer daraus. Meine Pläne waren jedenfalls groß. Ich wollte nichts Geringeres, als mir ein Leben in Freiheit erobern.

Ich bezog für ein paar Tage ein Zimmer in einer Jugendherberge. Jeder hat einmal klein angefangen. Was kümmerte mich Komfort, wenn ich nur endlich mein eigenes Leben beginnen konnte. Ich ging berauscht durch die Stadt. Alles, was ich sah, schien mir von Bedeutung. Ich studierte die Gesichter der Menschen, ich sah in ihnen einen Schimmer vom Geheimnis des Lebens in dieser Stadt.

Manche schienen an einer unbekannten Aufgabe zu tragen, von der sie selbst nichts wussten. Ihre Aufgabe war es, diese Stadt zu verkörpern, diese große, abenteuerliche Stadt, die hungrig war nach immer neuen Leben. Nun hatte auch ich eine Aufgabe. Ich war ein neues Leben in diesem Abenteuer. Ich wollte meine Aufgabe mit aller Kraft leben.

An einem Anschlagbrett an der Universität fand ich diese Notiz:

Hi, bin Student, gehe es locker an, bin eher der entspannte Typ, suche ebensolchen Mitbewohner. Konrad. Tel. usw.

Ich rief an, Konrad meinte, ich soll doch gleich vorbeikommen.

Er öffnete in Boxershorts, seine Haare waren wild zerzaust, er war sehr blass und roch nach einer langen Nacht in einer verrauchten Bar. Er wies mir einen klapprigen Sessel zu, der bedrohlich ächzte, als ich mich setzte. Die wenigen Möbelstücke waren eigene Persönlichkeiten, die schon viel erlebt hatten. Auf dem Tisch standen Essensreste unbekannten Datums. Irgendwo unter einem Weinglas lag ein schmuddeliges Vorlesungsverzeichnis.

Ich bewunderte Konrad für seine Lässigkeit, so großstädtisch lässig wollte ich eines Tages auch sein. Er bot mir eine Zigarette an, wir rauchten gemeinsam, und der Rauch, den wir ausbliesen, war schon unser Pakt vom Zusammenleben.

Mein Zimmer war ein langer schmaler Schlauch mit einem Fenster in einen lichtlosen Innenhof. Eine Matratze unbestimmten Alters lag auf dem Boden, der Schreibtisch war eine Holzplatte auf zwei Böcken. Davor stand ein alter Stuhl, an dem Reste weißer Farbe erkennbar waren. Konrad gab mir den Wohnungsschlüssel, schenkte zwei Gläser Wein ein und stieß mit mir an. Mein Glas war schmutzig. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht.

Ich fuhr in die Jugendherberge und holte meine Sachen. Nun war ich also ein echter Bewohner dieser Stadt.

Frühmorgens suchte ich im Kühlschrank nach Essbarem, fand nur ein Stück ranzige Butter, eine offene Fischdose und eine Flasche Orangensaft, auf dem grüner Schimmel schwamm. Konrad schlief noch, als ich die Wohnung verließ.

Ich schlenderte durch die Straßen, trank an einem Stehpult vor einem Tschibo-Cafe einen kleinen Braunen. Ich ging an die Universität, weil mir nichts Besseres einfiel.

Ich stand in einer langen Reihe von Studienanfängern, die sich alle wie ich an der Universität einschrieben. Ich begriff, dass ich nicht mehr allein war. Ich war nicht der Einzige, der von einer Zukunft träumte. So wie es aussah, war ich Teil einer Generation.

Vater hatte mir aufgetragen, ihm sofort nach meiner Immatrikulation eine Bestätigung über mein Studium der Betriebswirtschaftslehre zu schicken. Dann würde er mir mein erstes Monatsgeld schicken. Ohne Betriebswirtschaftslehre keine Freiheit. Dabei stellte ich mir die Betriebswirtschaft so vor, wie der Name klang: als ein ausbruchsicheres Gefängnis.

Ich hatte nicht vor, der Betriebswirtschaftslehre mehr als eine offizielle Studienbestätigung zu widmen.

Aber ich wollte doch wenigstens den Ort, wo man studierte, was ich nicht vorhatte zu studieren, mit eigenen Augen sehen. Ich betrat das Institut für Betriebswirtschaftslehre. Es roch nach Linoleumboden, in einer Vitrine las ich ein paar Anschläge, eine junge Frau mit strenger Brille öffnete vorsichtig die Tür zu einem Seminarraum, ich hörte die Stimme eines Professors, er sagte: …ergibt das nach Steuern eine Rendite von…, die Tür schloß sich, alles war still.

Auf einem Plan fand ich eine Auflistung der Institute in diesem Teil der Universität. Mein Blick fiel auf das Institut für Philosophie. Ich wusste von Philiosophie nicht mehr als den unbrauchbaren Quark, den uns in der Schule Professor M. erzählt hatte, der einige Jahre in einem Priesterseminar gelebt hatte. Egal, worüber er redete, am Ende lief es immer auf eine Tirade auf die katholische Kirche hinaus, mit der er, wie es schien, noch einige Hühner zu rupfen hatte. Sein Lieblingsthema war die Sexualfeindlichkeit der Kirche. Er genoß es, das Wort Sex auf seiner Zunge zergehen zu lassen und dabei eine meiner Mitschülerinnen anzustarren, mit Vorliebe Laura, denn die hatte den stattlichsten Busen.

Das war so ziemlich alles, was ich von Professor M. über Philosophie gelernt hatte. Ach ja, irgendetwas über ein Ding an sich, das man unmöglich erkennen könne. Im Mund von Professor M. klang das Ding an sich irgendwie unanständig. Jedenfalls schmunzelten wir Jungs, wenn darauf die Rede kam. Wir alle hatten ja ein Ding an sich in der Hose.

Obgleich ich also im Fach Philosophie nichts gelernt hatte, interessierte es mich, ob die Philosophie wirklich, wie ich einmal im Radio gehört hatte, Antwort auf die großen Fragen des Lebens wusste. Zwar hätte ich nicht sagen können, welches die großen Fragen des Lebens waren, aber irgendwie klang das gewichtig und würdevoll. Ich beschloß, dem Institut für Philosophie einen Besuch abzustatten.

Die erste Person, die ich auf der Philosophie sah, war ein Waschbär. Jedenfalls huschte der Mann mit der unbändigen Haartracht als scheuer Waschbär an der Wand entlang, wie ich es in einem Zeichentrickfilm gesehen hatte. Er riss die Tür der Institutsbibliothek auf, schnupperte, wobei sein Riechkolben zitterte, und verschwand mit wippendem Haar in der Höhle der Bücher.

Die zweite Person war eine Eule. Sie kam mit magnetischem Blick aus gelben, weit aufgerissenen Augen auf mich zu. Ich blieb gebannt stehen, ich wusste jetzt, wie es nachts dem Kleingetier erging. Es war ein lautloser Tod, der da mit staubtrockenen Flügeln kam. Die Eule schwebte in Zeitlupe an mir vorüber, bis zuletzt bannte sie mich mit ihrem Blick, ein leichtes, würdevolles Nicken, dann betrat sie den Hörsaal 2.

Ich folgte ihr wie in Trance, setzte mich in die hinterste, oberste Reihe. Die Eule schritt langsam und majestätisch nach unten ans Rednerpult. Nun, da sie mich nicht mehr fixierte, sah ich mich im Hörsaal um. Unter grauem Neonlicht saßen da und dort vereinzelt eine Handvoll Schemen. Mir fiel auf, dass sie alle dunkel gekleidet waren, es schien, als wären sie staubbedeckt, doch das mochte das graue Licht sein. Und sie wirkten irgendwie erschöpft, als trüge jeder von ihnen das Gewicht der Welt. Außerdem waren sie alterslos, mehr wie Vegetation, ein altersloses Gestrüpp. Auf jeden Fall im zwanzigsten Semester.

Unten in der ersten Reihe sah ich mehrere Aufnahmegeräte. Ich würde mich auf keinen Fall dahin setzen, unter die Augen der Eule. Vorerst war ich ganz hinten oben sicher. Einer aus dem Gestrüpp stand auf und schloss die Tür. Als ein Lichtschimmer von draußen auf sein Gesicht fiel, sah ich, dass er eine Frau war, mit dem Haarschnitt eines Rauhaardackels.

Nun sprach die Eule, wobei sie mit ihren gelben Augen den ganzen Saal hypnotisierte.

Werte Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns für heute einen Parforceritt vorgenommen durch die Epistemologie der zweifachen Verschränkung der Natura naturans in der Morgendämmerung der Philosophie der Neuzeit, wobei wir unser Augenmerk zu legen haben werden zum einen auf jene Schicksalsnacht des Cartesius im November des Jahres 1619, deren Morgendämmerung noch immer nicht angebrochen ist, zum anderen – immer unter Berücksichtigung des bahnbrechenden „Discours de la méthode“ des braven Cartesius (sagen Sie niemals Desscartes, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen Sie es sich leicht und nennen Sie den großen Meister bei seinem lateinischen Namen: Cartesius, nomen est omen, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Name ist kein Nebbich, im Namen steckt die Entschlüsselung so manchen Arkanums, das nur als Fußnote), sowie selbstredend des Hume’schen „A Treatise of Human Nature“, dieser folgenreichen Schrift, die später dem in Königsberg so manche durchwachte Stunde bereiten würde – zum anderen freilich, liebe Kolleginnen und Kollegen – jetzt neigte die Eule sich weit über das Pult nach vorn und verstärkte die Strahlkraft ihrer gelben Augen auf Angriffslicht –, kein Parforceritt durch die Dämmerstunde des neuzeitlichen Denkens ohne einen gewissermaßen schweinsgaloppartigen paso doble querbeet durch die Epistemologie eines Zeitalters, das nicht aufhört, uns zu denken zu geben.

Die Eule zog ihren Kopf etwas nach hinten, wanderte wortlos mit ihrem Blick jeden Einzelnen in den vorderen Reihen ab, wobei sie bei manchem einen Augenblick länger verweilte, als wäre hier die doppelte Stärke an Hypnose notwendig. Ich rutschte mit dem Becken vor bis an die Kante der Bank, duckte mich nach hinten unten, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, denn nun wanderte der Blick der Eule die spärlich besetzen Reihen hinauf bis zu mir. Ich tat so, als suchte ich unter der Bank ein verlorenes Schreibzeug, doch ich konnte nicht ander als dem Blick der Eule zu begegnen. Welcher Teufel hatte mich geritten, als ich ihr in den Hörsaal gefolgt war?

Zum Glück drehte die Eule ihren Blick wieder auf die erste Reihe und setzte ihre Vorlesung fort. Übrigens sprach sie frei, kein Papier, kein Heft, kein Buch weit und breit.

Ich war gefangen, ich konnte unmöglich aus dem Hörsaal entschlüpfen, die Eule hätte mich mit ihrem Blick durchbohrt. So hörte ich zwei Stunden lang eine Kette von Sätzen, von denen mich keiner an meine Muttersprache erinnerte. Ich verstand die Wortfolge, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr gut, ich saß also in einer Vorlesung in deutscher Sprache. Doch wie konnte es sein, dass es so viele Sätze in deutscher Sprache gab, von denen ich keinen einzigen verstand? So musste im Mittelalter der lateinische Gottesdienst für das gemeine Volk gewesen sein. Doch ich gab nicht auf.

Satz für Satz versuchte ich der Eule zu folgen, ich verstand auch immer wieder einen Halbsatz, ehe es wieder quer in ein Begriffsgebüsch ging, auf das Professor M. mich nicht vorbereitet hatte. Ich sehnte die einfache Welt des Professor M. herbei. Zwar hatte ich mich in den Philosophiestunden schrecklich gelangweilt, weil von vornherein feststand, worum es gehen würde, nämlich um die Kirche und ihre Unterdrückung der Sexualität. Aber eigentlich war es um die unterdrückte Sexualität des Professor M. gegangen, das hatten alle verstanden, außer er selbst. Immerhin hatten alle ihn verstanden, ein beneidenswerter Zustand, wenn ich mit einem Ohr die Rede der Eule hörte, ohne ein einziges Wort zu verstehen.

Irgendwie begann ich Gefallen daran zu finden. Hatte ich nicht allen Grund, stolz darauf zu sein, in einer Vorlesung zu sitzen, von der keine zwei Leute auf der ganzen Welt etwas verstanden hätten? Ja, das Gestrüpp mit dem Aufnahmegerät brauchte mir nichts vorzumachen: Ich war mir sicher, dass kein einziger hier im Hörsaal wusste, wovon Eule redete. Denn es konnte gar nicht sein, dass man in zwanzig Semestern soviel klüger wurde als der Rest der Welt, klug genug, um Eule in die Eiswüste der Abstraktion zu folgen. Ja, Eiswüste der Abstraktion. Diesen Ausdruck habe ich von Eules Rede behalten, neben dem liebe Kolleginnen und Kollegen, und dem Parforceritt. Eiswüste der Abstraktion: Das war was für mich. Ich hatte etwas gefunden, wovon ich sicher war, nie etwas zu verstehen.

Ich würde mir tausend Mal Eules Vorlesung anhören können und noch immer kein Wort verstehen. Das war irgendwie beruhigend, immerhin war darauf Verlaß. Und es war auch beruhigend, dass es Dinge auf der Welt gab, von denen kein Einziger etwas verstand. Auch Eule nicht, darüber war ich mir sicher.

Eule schloß mit dem Versprechen, beim nächsten Mal einen Parforceritt durch das Gemüsebeet des Leviathan eines gewissen Mister Hobbes oder Hope zu reiten, wenn ich richtig verstanden habe. Immerhin glaube ich den Schlusssatz verstanden zu haben. Ach ja, und natürlich das abschließende: liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich war jetzt ein Kollege der klügsten Eule der Welt. Ich konnte stolz sein auf meine Ausbeute an meinem ersten Tag an der Universität.

Ich verließ den Hörsaal, ohne den Boden zu berühren. Die Philosophie war eine gefährliche Angelegenheit, das begriff ich, als ich wie ein Tattergreis durchs Stiegenhaus tappte. Zwei Stunden unter Eules Begriffsbombardement, und ich war ein alter Mann, zumindest steckte ich in alten Begriffssäcken fest.

Ein eigenartiger Hunger nagte tief in mir. Es war nicht der Hunger nach Essen, es war ein Hunger nach Leben. Mein junger Körper wollte leben. Ich nahm probehalber zwei Stufen mit einem Schritt. Es funktionierte, meine Gelenke waren frisch, meine Beine kräftig. Ich jauchzte im Stillen: Ich war jung, ich besaß das höchste Gut: Jugend!

Im Treppenhaus begegnete ich ausschließlich jungen Leuten, Freundinnen plauderten, kicherten, eine junge Frau warf mir einen hellen Blick zu. He, ich war da! Diese schöne junge Frau holte mich mit ihrem Blick zurück auf die Erde! Eules Vortrag war also nicht mein Schicksal, ich musste kein staubbedecktes Gestrüpp werden, ich konnte zur Tür hinausspazieren und vor dem erstbesten Mädchen ein Rad schlagen! Da draußen wartete das Leben auf mich, ich musste es mir nur nehmen!

   
   

Zur Person

Wolfgang Hermann

Geboren: 1961 in Bregenz

Studium: Philosophie in Wien

Publikationen: Das erste Buch „Das schöne Leben“ erschien 1988 bei Hanser, seitdem zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt „Abschied ohne Ende“ (Roman, 2012), „Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald“ (Gedichte, 2013).

Preise: Jürgen Ponto Preis, Anton Wildgans Preis, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis.

Wolfgang Hermann: „Die Kunst des unterirdischen Fliegens“, Verlag Langen Müller. Der Roman kommt ab 23. Februar in die Buchhandlungen.

Du hast einen Tipp für die VN Redaktion? Schicke uns jetzt Hinweise und Bilder an redaktion@vn.at.