Vom Foto der Katze in der Wohnung
Ich war nicht da, als der tote Mann starb. Ich war bei meiner Oma, wo es nichts gab, außer Schweinen und Wald. Dass ich nicht da war, als der tote Mann starb, passte, weil ich nie da war, wenn etwas passierte. Wir durften die Schweine-Oma immer nur einzeln besuchen fahren, deswegen war meine Schwester Anne zuhause geblieben. Zwei von euch kann ich nicht aushalten, sagte die Oma oft. Aber ob wir die Oma aushalten konnten, fragte niemand.
Ich war noch nicht ganz auf dem Hinterhof angekommen, als mir Anne die Neuigkeiten entgegenbrüllte. „Der tote Mann ist tot!“, schrie sie, und Mama packte sie fest an der Schulter und sagte: „Kannst du hier mal nicht so rumschreien?“
Ich hätte beinahe geweint, als ich vom Tod des toten Mannes erfuhr. Nicht, weil ich traurig war, sondern weil ich seinen Tod verpasst hatte. Anne und ich hatten ja monatelang darauf gewartet. Wir wohnten im Vorderhaus in einer Erdgeschosswohnung, aber das Fenster unseres Zimmers ging zum Hinterhof raus, und so konnten wir den toten Mann beobachten, wenn er sich vorbei an Fahrrädern und Mülltonnen zu seiner Wohnung schleppte. Immer hatten wir Angst, dass er zu uns hinübersehen und uns hinter den Topfpflanzen entdecken würde. Aber er sah nie zu uns hinüber, er sah immer zu Boden, während er über den Hof schlurfte, zu Lild oder Aldi und wieder zurück in seine Wohnung. Wir nannten ihn den toten Mann, weil er aussah, als sei er irgendwann gestorben und hätte es nur noch nicht gemerkt. Bei uns im Haus wohnten viele Leute, die alt und krank waren, aber niemand sah so alt und krank aus wie der tote Mann. Er passte in unser Haus mit dem bröckelnden Putz und dem komischen Geruch. In dem Haus roch es komisch, weil jemand im Keller Rattenfallen aufgestellt, die toten Ratten aber nicht weggeworfen hatte. Mama schrieb Zettel, die sie an die Tür des Kellers hängte. „Die Kadawer müssen entfernt werden.“ Irgendwer strich das „w“ in Kadawer weg und ersetzte es durch ein „v“. „Bestimmt die werdammten Studenten!“, sagte meine Mutter. Sie hasste die Studenten, weil sie oft Partys feierten, nachts laute Musik hörten und sich dann im Hinterhof übergaben. Aber auch, weil sie wussten, dass man Kadaver nicht mit „w“ schrieb.
Der tote Mann hasste die Studenten ebenfalls. Wegen der Musik und der Partys, und weil die Studenten jung und nicht tot waren, weil sie oft auf ihrem Balkon saßen und die ganze Nacht lachten und rauchten. Bestimmt hassten die Studenten auch irgendwen, Frau Plattmann, weil sie schon zwei Mal die Polizei gerufen hatte, oder Anne und mich, weil wir manchmal ihre Zeitung aus dem Briefkasten stahlen.
Wie war der tote Mann gestorben? Anne wusste es nicht, aber sie wusste, dass er fast eine Woche in der Wohnung gelegen hatte, bevor irgendjemandem aufgefallen war, dass der Gestank im Treppenhaus nichts mehr mit den Rattenkadawern zu tun hatte. Also hatte irgendwer die Polizei gerufen. „Bestimmt die Plattmann!“, vermutete meine Schwester. „Die ruft doch immer die Polizei.“
Wenn der tote Mann aber eine Woche tot in seiner Wohnung gelegen hatte, dann hieß das, dass ich bei seinem Tod nicht bei der Schweine-Oma, sondern zuhause gewesen war, genau wie Anne.
„Ich war ja auch da, als er gestorben ist“, sagte ich zu Anne, und plötzlich kam mir ein komisches Gefühl. Anne und ich standen im Wohnungsflur und ich musste mich kurz gegen die Wand lehnen, weil mir das Gefühl in die Beine gekrochen war, und es machte sie ganz weich, so wie als ich einmal Mamas Tramadol wegen einer Wette mit Anne geschluckt hatte. Die Wohnung des toten Mannes lag genau wie unsere im Erdgeschoss. Wenn wir zum richtigen Zeitpunkt durch eines seiner Fenster geschaut hätten, dann hätten wir ihm vielleicht beim Sterben zusehen können, auch wenn ich nicht weiß, ob es viel zu sehen gegeben hätte, wir wussten ja nicht, wie er gestorben war. Vielleicht war er einfach eingeschlafen.
„Hast du gesehen, wie sie ihn rausgetragen haben?“, fragte ich Anne.
Sie überlegte kurz, ob sie mich anlügen sollte, dann schüttelte sie den Kopf. Nein, die Polizei hatte den Mann anscheinend mit etwas zugedeckt, einer Decke oder Plane, und ihn auf einer Bahre aus dem Haus getragen. Die ganze Zeit über war der Hinterhof abgesperrt gewesen, damit man nicht zu nah herankommen und den toten Mann anglotzen konnte.
Die Idee mit dem Einbruch kam Anne wegen unserer Tür. Wie alle Türen im Haus war sie eine Flügeltür und alt, noch älter als der tote Mann es gewesen war. Vor ein paar Wochen hatten Anne und ich herausgefunden, wie wir die Tür ohne Schlüssel aufbekommen konnten. Wenn der eine sich fest gegen die rechte Tür drückte und der andere an der linken ruckelte, sprang sie einfach auf.
Die Tür zur Wohnung des toten Mannes hatte schon bessere Zeiten gesehen. Das Holz war abgesplittert, ums Schloss voller Kratzspuren, weil jemand versucht hatte, einzubrechen. Warum irgendwer beim toten Mann hatte einbrechen wollen, weiß ich nicht. Eigentlich war allen klar, dass es bei ihm nichts zu holen gab. Auch Anne und ich glaubten nicht, dass wir Geld oder Schmuck finden würden. Der Einbruch war bloß eine Mutprobe. Die Wohnung machte uns unruhig. Es machte uns unruhig, dass sie immer noch da war, über den Hof nur wenige Schritte von uns entfernt. Es machte uns unruhig, dass die Räume noch da waren, obwohl es den toten Mann nicht mehr gab. Bald würde die Wohnung geräumt werden, und jemand Neues einziehen. Obwohl die Zimmer natürlich alle noch da wären, die Fenster und die Tür, wäre die Wohnung eine andere, das wussten wir, ohne es ganz zu verstehen. In unserem Haus interessierte sich eigentlich niemand dafür, was bei den Nachbarn passierte, trotzdem waren wir nervös, als wir vor der Wohnung des toten Mannes standen. Es war vormittags, aber wegen der Ferien mussten wir nicht zur Schule. Alles, was wir nicht tun durften, taten wir vormittags, wenn Mama arbeiten war.
Die Tür ging nicht gleich bei unserem ersten Versuch auf, und auch nicht bei unserem zweiten. „Vielleicht ist das doch keine so gute Idee“, sagte ich zu Anne, gerade als die Tür aufsprang.
„Hast du jetzt doch Schiss, oder was?“, fragte Anne. Sie wusste, dass ich Schiss hatte, so wie ich wusste, dass sie Schiss hatte. Ein paar Sekunden standen wir vor der offenen Tür und sahen uns an, wir sahen uns fest in die Augen, und es war wie ein Kampf, nur dass, anders als bei unseren anderen Kämpfen, keiner schubste oder kratzte oder biss. Dann schob ich mich langsam an Anne vorbei in die Wohnung und hatte so gewonnen.
In der Wohnung des toten Mannes roch es nach dem Tod. Ich hatte vorher nicht gewusst, wie der Tod roch, aber als ich in der Wohnung stand, da erkannte ich den Geruch gleich, so als hätte ich ihn schon tausend Mal gerochen, und danach vergaß ich ihn nie wieder. Auch heute muss ich nur die Augen zumachen und mich konzentrieren, und dann steigt er mir in die Nase. Ich kann nicht sagen, ob der Tod roch wie die Rattenkadawer oder wie faule Eier oder wie der tote Mann, wenn er sich mit seinen Tüten voll leerer Bierflaschen über den Hof schleppte. Der Tod roch nicht wie jenes oder dieses, sondern wie nichts anderes auf der Welt, und deswegen erkannte ich ihn, weil der Tod selbst auch wie nichts anderes auf der Welt ist.
Wir fanden uns gut zurecht in der Wohnung des toten Mannes, denn sie war fast genauso geschnitten wie unsere Wohnung. Es gab nur ein Zimmer weniger. Das Wohnzimmer war dort, wo unser Wohnzimmer war, das Schlafzimmer dort, wo das Schlafzimmer unserer Mutter war. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand ein Aschenbecher, aus dem Zigarettenstummel quollen. Anne forderte mich heraus, den Finger hineinzustecken und mit der schwarzen Fingerspitze ein Kreuz auf meine Stirn zu malen. Weil sie die Idee zuerst gehabt hatte, musste ich tun, was sie sagte. Wir suchten ein wenig nach Geld, aber natürlich fanden wir keines, der tote Mann hatte ja nicht mal Geld gehabt, als er noch lebte, wo sollte jetzt also welches herkommen? Wir gingen in die Küche und schauten in den Kühlschrank. Es gab noch drei Bierflaschen und Butter, die ranzig aussah, und ein Glas mit Gewürzgurken. „Du musst eine Gewürzgurke essen“, sagte ich schnell zu Anne. Mit spitzen Fingern zog sie eine der Gewürzgurken aus dem trüben Wasser und schluckte sie hinunter, ohne zu kauen. Sie rieb sich den Bauch, als hätte sie noch nie etwas so Gutes wie diese Gurke gegessen.
Wir wussten nicht, in welchem Zimmer der tote Mann gestorben war, aber wir tippten auf das Wohnzimmer. Deswegen forderten wir uns im Wohnzimmer zu allem Möglichen heraus. Ich forderte Anne heraus, sich auf den Teppich zu legen, denn auf dem Teppich gab es einen braunen Fleck, der wahrscheinlich Kaffee, vielleicht aber auch Blut war. Anne forderte mich heraus, mich auf jeden der beigen Cord-Sessel zu setzen, der Geruch nach Tod war hier besonders stark. Auf dem Couchtisch lag eine BILD-Zeitung, darin lasen wir ein wenig. Wir lasen über einen Mann, der zwei Kinder umgebracht hatte, aber nur für kurze Zeit ins Gefängnis hatte gehen müssen. Nun war er wieder auf freiem Fuß, unterwegs in den Straßen Berlins. Wir stellten Vermutungen über den toten Mann an, dass er vielleicht auch ein Verbrechen begangen hatte, aber wir glaubten nicht tatsächlich daran. Der tote Mann hatte zu schwach und müde ausgesehen, und wir trauten ihm kein Verbrechen zu.
In das Schlafzimmer sahen wir nur kurz hinein. Das Bett war nicht gemacht, und auf dem Boden lag ein Haufen Kleider. Keiner von uns beiden ging in den Raum hinein, und keiner von uns beiden forderte den anderen auf, es zu tun.
„Komm, wir hauen wieder ab“, sagte Anne zu mir.
Doch bevor ich durch die Tür trat, sah ich das Foto an der Wand. Es war das Foto einer Katze. Keine besonders schöne Katze und kein besonders schönes Foto. Die Katze machte auch nichts Lustiges, so wie Katzen auf Fotos im Internet es immer tun. Sie hockte bloß einfach auf dem Boden und schaute in die Kamera. Der Rahmen war ein IKEA-Holzrahmen, aber jemand – vermutlich der tote Mann – hatte ihn blau angemalt und drauf geschrieben: Milla. Der tote Mann hatte keine Katze gehabt, das wussten wir sicher, zumindest nicht in den fünf Jahren, die wir schon in dem Haus wohnten. Das Foto musste alt sein, so sah es auch aus. Vielleicht hatte der tote Mann vor zehn oder fünfzehn oder zwanzig Jahren eine Katze namens Milla besessen.
Wieder wurden meine Beine weich, Tramadol-weich, und ich musste das Foto der Katze anschauen, ich konnte nirgendwo anders hinsehen, ich konnte nichts anderes machen als Milla ansehen. Das Foto war das einzige Foto in der Wohnung des toten Mannes, also musste ihm die Katze, Milla, viel bedeutet haben. Das Foto hatte ihn vielleicht über ihren Tod hinweggetröstet, weil es noch an der Wand gehangen hatte und er oft an Milla dachte, jedes Mal eigentlich, wenn er an ihrem Foto vorbeiging. Aber jetzt war der tote Mann tot, und niemand ging mehr an Millas Foto vorbei, es bedeutete überhaupt nichts mehr, niemandem. Ob es Milla in der Welt einmal gegeben hatte, spielte keine Rolle mehr und würde auch nie wieder eine spielen. Wir konnten uns immerhin noch an den toten Mann erinnern, an Milla aber erinnerte sich nun niemand mehr, es war fast so, als wäre sie doppelt tot. Etwas in meinem Körper machte sich auf, wie eine Falltür oder ein Loch, und alles fiel hinein, auch ich selbst fiel hinein, aber nachdem ich unten aufgeschlagen war, konnte ich mich zumindest wieder bewegen.
Anne war längst draußen im Hinterhof und pfiff nach mir. Ich nahm das Bild der Katze vom Haken und steckte es unter meinen Pullover, damit Anne es nicht sehen und mich auslachen würde. Dann trat ich schnell durch die Tür in den Flur und von dort hinaus zu Anne in den Hinterhof. Es war kein sonniger Tag, und trotzdem war mir das Licht an diesem Vormittag so gleißend hell, dass ich die Augen einen Moment schließen musste, bevor ich sie wieder öffnen konnte.
Zur Person
Katharina Hartwell
Geboren: 1984 in Köln
Ausbildung: Studium der Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt sowie Masterstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig
Wohnort: Berlin
Publikationen: u. a. „Im Eisluftballon“, Erzählungen, „Das Fremde Meer“, Roman, „Der Dieb in der Nacht“, Roman, Berlin Verlag
Auszeichnungen: (u.a.): MDR-Literaturpreis 2009, Würth-Literaturpreis 2015; Harder Literaturpreis 2016
Die Verleihung des Harder Literaturpreises erfolgt im Rahmen des Harder Literaturfestivals, das vom 20. bis 22. Mai stattfindet. Dem Wettbewerb ist auch die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „miromente“ gewidmet, in dem zahlreiche Beiträge nachzulesen sind.
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