In der Höhle des Löwen bergen sich die Schafe

Die junge jüdische Autorin Deborah Feldman schreibt ihre Geschichte fort: Wer ist Deutschland?
Autobiografische Erzählung. (pen) Dass Träume da sind, um verwirklicht zu werden, ist eine Binsenweisheit, im Normalfall von Alltag und Routine eher ärgerlich als motivierend. Dann gibt es da noch die Geschichten, die das Leben schreibt, auch das meist kaum mehr als eine Floskel. Aber dann gibt es die Fälle, in denen alles genau so ist und passt: Wenn ein Traum heranreift, konsequent bearbeitet wird und schließlich die Realität überwindet; wenn ein Leben zu einer Geschichte wird, die sich ohne Verlust an Glaubwürdigkeit und Faszination erzählen lässt. Deborah Feldman hat vor gut einem Jahr mit „Unorthodox“ einen ersten Schritt getan bzw. beschrieben. Nun legt der Secession Verlag einen 700 Seiten starken Bericht vor, in dem der verwirklichte Traum erzählt wird. Wie es sich für einen Traum gehört, dem ja von vornherein zuerst einmal nicht zu trauen ist, erfolgt das in nüchterner, abwägender, kritischer, analysierender Haltung. So erschließt sich mehr und mehr eine zwar erahnte, doch so noch nicht erblickte Welt.
Die Autorin, in einer streng orthodoxen jüdischen Gemeinschaft in New York aufgewachsen, machte vor zwei Jahren den entscheidenden Schritt aus dieser engen Welt heraus, einen Schritt ohne die Möglichkeit der Umkehr. Das Buch, das sie darüber schrieb, „Unorthodox“, wurde unerwartet und auf echt amerikanische Weise zum Bestseller, der für Deborah Feldman vorerst das bis dahin prekäre materielle Leben sicherte. Das aber war trotzdem nur die halbe Miete. Der größere und härtere Brocken bestand in der emotionalen Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, mit dem Schicksal der ungarischen Großmutter, deren gesamte Großfamilie der Nazi-Barbarei zum Opfer fiel. Wiederholte Reisen nach Europa führen die junge Frau auf die Fährten ihres Schicksals: Frankreich, Spanien, Italien, endlich Ungarn, Schweden und dann die große Prüfung: Deutschland, in den Augen ihres Herkunftsmilieus das absolute No-Go. Schließlich, und das nachzulesen ist ein großes, aufklärerisches Abenteuer, eine historisch-politisch-humanistische Lehrstunde ersten Ranges, schließlich zieht Deborah Feldman mit ihrem Sohn nach Berlin und lässt sich dort nieder, ja sucht um die deutsche Staatsbürgerschaft an.
Erziehung des Herzens
Dieses in jedem Sinne starke Buch holt weit aus und ist doch in jeder Zeile hochkonzentriert. Die Begegnungen der jungen Frau mit europäischer Literatur und Kunst, mit Paris und Rom, mit Stätten jüdischer und christlicher Geschichte, mit Europäern sind beredte Zeugen einer wahren „Éducation sentimentale“.
Wie sich die Zeiten und Orte verschränken und das Private mit dem Historischen eins wird, wie sich Weltgeschichte und Einzelschicksal verknüpfen, das hat Deborah Feldman am eigenen Leib und im eigenen Denken und Fühlen erlebt. Daraus bezieht ihre Erzählung einen Ton zwischen Traumbericht und Sachverhaltsdarstellung, der fasziniert und erbaut im besten Sinn.

Deborah Feldman: „Überbitten. Autobiografische Erzählung“, Secession Verlag, 704 Seiten.