Die Spuren des Verbrechens im Märchen

Die Klasse
Dominik W. Rettinger
Zsolnay, 470 Seiten
Der belgische Adel tänzelt am Abgrund, dazu gibt es harte Bilanzen aus Polen.
Romane Dominik W. Rettinger gehört zur Elite jener Autoren, die das neue Polen mit all seinen Vor- und Nachteilen kritisch betrachten und Romane auf einem internationalen Niveau schreiben. „Die Klasse“ ist ein moderner Thriller, der die Möglichkeiten in diesem Genre sehr gut auslotet.
Polnische Wahrheiten
Zum Inhalt: Adam Wierzbicki ist Radiomoderator einer Livesendung eines Warschauer Senders. Plötzlich bekommt er direkt in seine Sendung hinein einen Anruf von Piotr Lasota, einem Freund aus der Schulzeit, um ihn aus einer brenzligen Situation zu befreien. Und schon wird der Radiomoderator in eine rasante Welt zwischen Gut und Böse, Ost und West entführt. Immer mehr kristallisiert sich heraus, dass Freunde aus den alten Zeiten, eben aus „der Klasse“, auf die schiefe Bahn geraten sind. Je mehr Adam in die Welt der Wirtschaftskorruption eindringt, desto mehr giert der Ermittler nach einer Lösung: Wer verfolgt warum Piotr Lasota?
Über lange Strecken hält der Autor die Spannung aufrecht, hier spielt mit Sicherheit seine Weitsichtigkeit als geübter Drehbuchautor eine Rolle, manchmal wird die Konstruktion dennoch spürbar, aber nicht aufdringlich. Dem aufklärerischen Radiomacher wird eine Frau zur Seite gestellt, ebenfalls eine Verfechterin der Redlichkeit im Duell gegen dunkle Mächte. Dieses Gerüst ist für den passionierten Thriller-Leser eine sichere Bank. Gelegentlich hätte Dominik W. Rettinger die Geschichte sacken lassen können, hier wäre dann Zeit für gedankliche und literarische Ambitionen gewesen, aber im Großen und Ganzen rockt er die Story und gibt nebenbei einen guten Einblick auf das heutige Polen.
Belgisches Konfekt
Eine fixe Größe im Literaturbetrieb ist die Französin Amélie Nothomb. Sie kratzt sehr routiniert am System, gelegentlich kann sie aber dennoch überraschen, wie aktuell mit ihrem kurzweiligen Roman „Töte mich“. Zum Inhalt: Der belgische Adel hat schon bessere Zeiten erlebt, das Gebot der Stunde ist die wirtschaftliche Führung der Schlösser und Burgen, da dies jedoch immer weniger zu gelingen vermag, stehen mittlerweile schon mehrere dieser „Prachthütten“ zum Verkauf, so auch die des Grafen Neville und seiner Familie. Bevor der Verkauf vollstreckt wird, will sich der Graf ein letztes Mal seinem traditionellen Herbstfest hingeben. Einige Tage vor der Party landet er bei einer Wahrsagerin. Diese prophezeit ihm einen Mord an einem Gast seines Schlossfestes, diese Tat werde zugleich all seine Probleme lösen. Nach kurzem Entsetzen kann die Suche nach dem passenden Mordopfer beginnen.
In elegantem, fast heiterem Stil und zugleich verführerisch wie feinstes belgisches Konfekt schafft es die Autorin, den Leser in die leichtlebige Welt des Adels mitzunehmen. In diesem märchenhaften Werk beschreibt sie das Lebensgefühl einer zum Scheitern verurteilten Gesellschaft mit großer Sicherheit und mit dem Wissen um ihre eigene Familie, die ihr Schloss verkaufen musste. Ein Stoff, in dem tatsächlich mehr Substanz steckt als es die Autorin zulässt.

Töte mich
Amélie Nothomb
Diogenes, 110 Seiten