Um das genaue Hinschauen geht es

Oskar Kokoschka: „Selbstbildnis“, Lithografie auf Papier, 1914.
Werke aus der Gurlitt-Kunstsammlung sind erstmals zu sehen, werfen Fragen auf, fordern ein Handeln.
Bern Im Jahr 1914 hatte Oskar Kokoschka ein Selbstbildnis gefertigt, das ihn mit einem Zeichenstift zeigt. Wenige Jahre später kommt es ins Stadtmuseum Dresden, wo es 1937 beschlagnahmt wurde. Die Reichskammer für Kunst hatte es zensiert. Die Hände im Spiel hatte mit Hildebrand Gurlitt (1895–1956) auch ein einstiger Museumsdirektor und Kunsthändler. Er vermacht es seinem Sohn. Cornelius Gurlitt (1932–2014) wiederum vererbte es dem Kunstmuseum in Bern. Ein Name, der vor dem Kunstfund in München vor einigen Jahren nur ein paar Insidern bekannt war (darunter auch Händler und Galeristen), steht nun für eine Sammlung mit rund 1500 Arbeiten, die nicht ob ihres Wertes Schlagzeilen machte, sondern weil sie ein Kapitel berührt, das über die Staaten hinweg in weiten Teilen noch unaufgearbeitet ist. „Entartete Kunst – Beschlagnahmt und verkauft“, lautet der Untertitel der Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ in Bern, der Begriff „entartet“ ist eigens in Anführungszeichen gesetzt, in die Sammlung Gurlitt gelangten Werke von Künstlern, die unter den Nationalsozialisten diffamiert wurden, die aus den Museen zu verschwinden hatten, mit denen aber Geld gemacht wurde. Zudem war Gurlitt eine jener Personen, die Beihilfe bei der Bestückung von geplanten Nazi-Museen leisteten, unter anderem durch Ankauf von enteigneter bzw. geraubter Kunst von Verfolgten, später Vertriebenen und Ermordeten.
Gesetzesinitiativen
Der Fund repräsentiere den Handlungsbedarf, erklärt Rein Wolfs, Intendant der Bonner Bundeskunsthalle am 1. November in Bern. Am Tag darauf hat er in Bonn jenen Teil der Ausstellung präsentiert, der wahrscheinlich auch noch Raubkunst enthält. Nina Zimmer, Direktorin des Kunstmuseums in Bern, geht davon aus, dass das Projekt das Thema vorantreibt. Die Washingtoner Erklärung zur Rückgabe bzw. Restitution von Kunst ist bekannt, die gesetzlichen Grundlagen in den betroffenen Staaten sind unterschiedlich. Dass es in der Schweiz zu Gesetzesinitiativen zu einer rascheren Abklärung von Raubkunstfragen kommen wird, hält Thomas Soraperra, der kaufmännische Direktor in Bern, nach seinen bisherigen Beobachtungen zur Breitenwirkung des Themenkomplexes gegenüber den VN nicht für ausgeschlossen. Schon am ersten Ausstellungstag bilden sich Schlangen vor dem Eingang. Dass das Museum in Bern als nunmehriger Erbe der Sammlung mit der Gurlitt-Schau die Besucherfrequenz erhöht, wird da und dort mit etwas Häme kommentiert. Der Annahme des Erbes sind Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland und dem Freistaat Bayern vorausgegangen, Marcel Brülhart, Vizepräsident der Dachstiftung des Kunstmuseums in Bern, will die Verantwortung als wichtiges Entscheidungsmotiv vorangestellt haben.
Inhaltsreicher Kunstparcours
Vier Werke aus der Sammlung wurden bislang restituiert, einige weitere sind als Raubkunst identifiziert, eine Reihe steht noch unter Raubkunstverdacht. Vom Milliardenschatz, den einige Medien nach der aus steuerrechtlichen Gründen erfolgten Beschlagnahmung des Gurlitt-Besitzes erkennen wollten, kann nicht die Rede sein. An den zwei Hauptthemen, die die Sammlung repräsentieren, orientiert sich nun die Ausstellung in Bern. Es geht einerseits um die Diffamierung der Moderne als „entartete“ Kunst und um das Sammlungsinteresse von Hildebrand Gurlitt. Mit aufbereiteten historischen Fakten ergibt sich ein Parcours, der vom Angriff auf die Künstler über Enteignung und Verkauf führt, während daneben bzw. ineinander verzahnt ein Abriss aus den wichtigsten Erscheinungen der Kunst nach 1900 erfolgt. So wird der Besucher einerseits über Historie und Versäumtes in der Aufarbeitung informiert und erfährt andererseits, dass die Sammlung Werke enthält, die eine Nachlesbarkeit der Epoche ermöglichen.
Abgesehen davon, dass das Cézanne-Gemälde „La Montagne Sainte-Victoire“ Bern erst noch erreichen wird und, so die jüngsten Äußerungen der Verantwortlichen, auch erreichen darf, sind die Arbeiten auf Papier so gruppiert, dass sie mit Werken von Oskar Schlemmer bis Paul Klee, Ernst Ludwig Kirchner, George Grosz, Otto Dix, Otto Mueller, August Macke, Franz Marc, Emil Nolde, Lovis Corinth oder dem erwähnten Oskar Kokoschka Strömungen und Gruppierungen wie „Das Bauhaus“, „Der Blaue Reiter“, „Die Brücke“ oder den Spätexpressionismus weitgehend zu charakterisieren vermögen. Ein Cranach oder ein Dürer-Blatt und Ölbilder aus verschiedenen Epochen sind in Bonn und kommen erst später zurück in die Schweiz, wo neben wenigen Gemälden, darunter das Bildnis „Maschka“ von Mueller und ein Selbstporträt von Dix, der Blick auf die große Aussagekraft von Zeichnungen, Gouachen und Aquarellen gelenkt wird. Um das genaue Hinschauen geht es schließlich.



Lovis Corinth: „Sündenfall“ aus der „Paradies“-Mappe, 1921.

Gurlitt-Chronologie
28. Februar 2012 Gurlitts Wohnung in München-Schwabing wird durchsucht. Die Fahnder entdecken mehr als 1200 wertvolle Kunstwerke.
10. Februar 2014 Es wird bekannt, dass weitere wertvolle Bilder in Gurlitts Haus in Salzburg gefunden wurden.
6. Mai 2014 Cornelius Gurlitt stirbt im Alter von 81 Jahren in seiner Wohnung in München.
7. Mai 2014 Das Kunstmuseum Bern gibt bekannt, von Gurlitt testamentarisch als „unbeschränkte und unbeschwerte Alleinerbin“ eingesetzt worden zu sein.
21. November 2014 Es wird bekannt, dass das Kunstmuseum Bern das Gurlitt-Erbe annehmen will. Am selben Tag kündigt Gurlitts Cousine Uta Werner an, das Testament anzufechten.
18. Juli 2016 Das Projekt „Provenienzrecherche Gurlitt“ teilt mit, dass fast 100 Bilder aus der Sammlung mehr oder weniger sicher als Raubkunst identifiziert wurden.
15. Dezember 2016 Das Oberlandesgericht München erklärt Gurlitts Testament für gültig und weist die Forderungen seiner Cousine endgültig ab.
2. und 3. November 2017 Der Gurlitt-Nachlass wird in einer Doppelausstellung im Kunstmuseum Bern und in der Bundeskunsthalle Bonn erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.
Geöffnet im Kunstmuseum Bern bis 4. März 2018: www.kunstmuseumbern.ch Am 30. November findet eine VN-Erlebnisreise nach Bern statt: vn.at/erlebnisreisen