Die Welt als Labyrinth und die Moral, die keine ist

Jan Bosse inszeniert Shakespeares Komödie als schwarzhumorig-bösen Spaß.
ZÜRICH Es ist eine vertrackte Sache mit der Sitte und der Menschlichkeit. Ist der Mensch sittenlos, wird er unmenschlich. Dies wird er aber auch wieder, wenn er die Moral verabsolutiert. Vielleicht ist das Ganze ja eine Frage des Maßes. Nur: Was wäre das richtige Maß?
Mit „Maß für Maß“ führt uns William Shakespeare auf dieses Themenfeld, indem er ein Experiment anstellt. In der Komödie nämlich will Vincentio, Herzog eines imaginierten verluderten Wien, das Volk zur Ordnung führen, indem er den sittenstrengen Angelo als Statthalter einsetzt. Dieser vorgeblich buchstabentreue Moralapostel scheitert indes an sich selbst viel schlimmer als ein Mann, den er hinrichten lassen will. Am Ende, als es an die obligaten Mehrfach-Heiraten geht, ist in dem Fünfakter, der zu Shakespeares „Problemstücken“ zählt, die Frage nicht endgültig geklärt, wie denn moralisch zielführendes Regieren funktionieren könnte.
Wahrnehmungsirritationen
Auch die Neuinszenierung von „Maß für Maß“ durch Jan Bosse auf der Pfauenbühne des Zürcher Schauspielhauses serviert keine bequemen Antworten auf die Fragen nach Gesetz und Unrecht, Macht und Machtmissbrauch, Privatschuld und öffentlicher Moral. Böse ironisch und raffiniert perspektivenreich ist der Abend, der nach der Übersetzung von Jens Roselt mit einer eigenen Textfassung aufwartet. Und er beschert sehr viel schwarzen Humor und auch unbelasteten Spaß. Die Welt als dichtes Labyrinth: Diese Botschaft entsendet bereits Moritz Müllers auf der Drehbühne mit seinen Wänden, Stangen und Leitern, wobei der Einsatz von Spiegeln für zusätzliche Wahrnehmungsirritationen sorgt. Indem Kathrin Plath Männer Röcke tragen lässt, unterläuft sie kostümbildnerische Geschlechterstereotypien auf spezielle Weise – just bei einem Stück, zu dessen Entstehungszeit auch Frauenrollen von Männern gespielt wurden.
Die Schauspieler laufen zu hoher Form auf. Hans Kremer zeigt Vincentio meist als besonnen-wissenden Mann, der aber doch nicht zur Positivfigur taugt: Strenges Durchgreifen überlässt er lieber einem Ersatzherrscher, derweil er selbst unerkannt im Mönchsgewand die Szene beobachtet. Beunruhigend führt Daniel Sträßer vor, dass Saubermann Angelo eigentlich ein Dreckskerl ist. Denn würde Angelo sonst den Beischlaf erpressen von einer Frau, die um Gnade bittet für ihren zum Tode verurteilten Bruder Claudio (Benito Bause)? Aber selbst diese ihre Keuschheit wie eine Monstranz vor sich hertragende Isabella taugt nicht zur Lichtgestalt, wie Lena Schwarz durchaus deutlich macht. tb
Nächste Vorstellungen (zwei Std.) am 16., 20., 22., 24., 27. April. www.schauspielhaus.ch