Spannend und ein Akt der Hoffnung

Kultur / 20.09.2019 • 18:12 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
Die ZeuginnenMargaret Atwood, Berlin Verlag572 Seiten

Die Zeuginnen

Margaret Atwood, Berlin Verlag

572 Seiten

Margaret Atwood zeigt Unterdrückungsmechanismen auf.

Roman In „The Testaments“, so der englische Originaltitel, kehrt Atwood an den dystopischen Ort zurück, den sie sich vor 34 Jahren in „The Handmaid‘s Tale“ ausgedacht hat. In Gilead, einem fundamentalistisch-christlichen Gottesstaat, der in den USA nach einer Fruchtbarkeitskrise entstanden ist, werden die noch verbliebenen fruchtbaren Frauen gezwungen, als „Mägde“ zu leben und ritualisierte Vergewaltigung zu erdulden, um Kinder zu zeugen. Das religiöse Dogma besagt, dass moderne Frauen mit ihrem freien Willen für die Krise mitverantwortlich sind.

Atwood hat oft gesagt, dass es in dem Buch nichts gibt, was in der Welt bis 1985 noch nicht geschehen war, aber eine Reihe von Faktoren haben in letzter Zeit dazu beigetragen, dass ihrem feministischen Klassiker wieder zusätzliche Brisanz verliehen wurde. Die preisgekrönte TV-Adaption machte die rote Uniform der Mägde zum Symbol für den Widerstand gegen die Frauenfeindlichkeit der Trump-Regierung. „Der Report der Magd“ endete damit, dass die Erzählerin Desfred abgeschleppt wurde. Atwood ließ dabei die Frage offen, ob ihre Protagonistin gerettet oder verhaftet wird. Im Epilog des Buches erfährt der Leser, dass die totalitäre Regierung irgendwann fällt, aber es wurde nicht gesagt wie und wann und was das für die Romanfiguren bedeutete. In „Die Zeuginnen“ wird diese Frage zum Teil beantwortet. Während die TV-Serie den Weg des Widerstandes ging und aus Desfred inzwischen eine Kriegerheldin wurde, hat Atwood gestanden, dass die Herausforderung, Desfreds Stimme neu zu erschaffen, ein kreativer Stolperstein für sie war. Sie hat dieses Problem elegant – und zur Überraschung vieler Fans – gelöst, indem sie die Geschichte von „Die Zeuginnen“, die ungefähr 16 Jahre nach dem Ende von „Der Report der Magd“ stattfindet, auf drei verschiedene Figuren aufteilt: Agnes, die in Gilead als Tochter eines wichtigen Kommandanten aufwächst; Daisy, eine junge Anti-Gilead-Aktivistin, die in Kanada lebt, und Tante Lydia, von der wir erfahren, wie sie von einer Richterin zu einer Art KZ-Aufseherin geworden ist. Desfred kommt fast gar nicht vor. Es ist ein kluger Schachzug, der es Atwood ermöglicht, aus neuen Perspektiven und mit ihrem ungewöhnlichen Geschick für Sprache, zu Themen wie Manipulation, Sexualpolitik und Komplizenschaft zurückzukehren, ohne von ihrer anfänglichen Heldin eingekesselt zu werden. In einer Schule lesen wir zum Beispiel, wie Mädchen einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Atwood interessiert sich dafür, wie Menschen moralisch kompromittiert und zu Komplizen gemacht werden. Während „Der Report der Magd“ ein brillantes Produkt des bedrückenden, inneren Monologs einer versklavten Frau war, entfaltet sich „Die Zeuginnen“ wie ein Krimi von Komplizinnen, reich an Spannung und dunkler Menschlichkeit.

Das Aufzeichnen der eigenen Erfahrungen ist ein Akt der Hoffnung, hat Atwood gesagt. Wie Botschaften, die in Flaschen ins Meer geworfen werden, hoffen Zeuginnen, dass jemand ihre Worte liest. An einer Stelle spricht uns Lydia an: „Wenn du dies gerade liest, wird zumindest dieses Manuskript überlebt haben. Aber vielleicht fantasiere ich nur. Vielleicht werde ich nie einen Leser haben.“ Es werden Millionen sein.