Von seelischer Vereisung

Das Andersen-Märchen wird zu einem alle Sinne ansprechenden Raumklangtheater.
ZÜRICH Das Opernhaus Zürich ist für seine Repertoirebreite bekannt. Und da gibt es auch Platz für Risikobehaftetes, für sperrigere Kost – wie zum Beispiel eben jetzt für „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Wobei das 1997 in Hamburg uraufgeführte und vom Komponisten Helmut Lachenmann als „Musik mit Bildern“ bezeichnete Stück in Zürich nun zugleich seine schweizerische Erstaufführung wie auch seine Uraufführung als Ballettversion erlebt hat.
Aber was heißt hier „sperrigere Kost“? Hingebungsvoll loten jedenfalls die Philharmonia Zürich, die oftmals mit gleichsam instrumentalen Effekten aufwartenden Sopranistinnen Alina Adamski und Yuko Kakuta und die Basler Madrigalisten unter Matthias Hermann die Geräuscherkundungen von Lachenmann aus, horchen den von der Partitur geforderten Wisch-, Klopf- und Schabbewegungen nach oder den wie in ein urtümliches Schnaufen überführten Atemklängen und Reibegeräuschen. Und wer hineinsteigt in diesen vielgestaltigen Klangkosmos, wird nicht nur neue Hörerfahrungen machen können. Sondern auch deutliche Entsprechungen wahrnehmen zum Schicksal der Hauptfigur von Hans Christian Andersens 1845 geschriebenem Kunstmärchen „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Denn diese akustischen Verlautbarungen, die nicht nur aus dem Orchestergraben und von der Bühne kommen, sondern auch von verschiedenen Orten aus dem Zuschauerraum, künden auch vom Frieren, von den letzten wärmenden Fantasien und vom Sterben dieser Gestalt, die gezwungen ist, in einer bitterkalten Silvesternacht Zündhölzchen feilzubieten – und zwar achtlos vorbeiziehenden Menschen, die dann in der guten Stube den Jahreswechsel feiern.
Ohne platte Verdoppelungen
Christian Spuck erzählt die Geschichte von einer herzenskalten, nur noch mit sich selbst beschäftigten saturierten Gesellschaft so, dass er die Töne, die derlei „Seh“-Angebote ermöglichen, nicht auch noch platt verdoppelt. Spuck scheut sich jedoch nicht, über seine Ballettchoreografie und Inszenierung das Märchen nochmals erfahrbar zu machen. Die forsche Art etwa, wie Spuck Mitglieder des Balletts in biedermeierlichen Kostümen über die Bühne defilieren lässt, kündet von innerer Vereisung. Die sechs, dann zwei Tänzerinnen ziehen uns in seelische Bezirke des bibbernden Mädchens, das Schwefelhölzchen entzündet, um sich etwas zu wärmen. Der Tod kündigt sich an in Hebefiguren mit männlichen Gestalten.
Ohne Hilfe des Programmbuchs wohl kaum zu identifizieren wäre das Bild einer Kaufhaus-Brandruine aus dem Frankfurt des Jahres 1968. Eine von Lachenmann eingearbeitete Passage aus einem Brief der nachmaligen RAF-Terroristin Gudrun Ensslin hat den Bühnenbildner Rufus Didwiszus zu dieser Wahl inspiriert. Und es gibt noch eine weitere Intarsie: Mit einer silbenzerlegend-verfremdenden Rezitation (durch Lachenmann selbst) wird ein Text von Leonardo da Vinci über einen Wanderer in Musik überführt.
Nächste Vorstellungen von “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern” (gegen 2 Std.) bis 14. November: www.opernhaus.ch
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