Die Autos dirigiert

Wie es kam, dass Walter in der ganzen Stadt und darüber hinaus bekannt und berühmt wurde? Schuld daran war eine Straßenkreuzung. Schuld war, dass jedes Auto im ganzen Land von dieser einen Kreuzung angezogen wurde wie von einem Magneten. Schuld war jeder einzelne Autofahrer. Der ganze Verkehr von Süd nach Nord, von Nord nach Süd kam in diesem Tal an einer einzigen Kreuzung zusammen, und die lag vor der mächtigen Kirche Sankt Martin. Im Zentrum der Kreuzung stand eine Trommel, rot-weiß kariert wie weiland die Trommel, die im Felde den vorrückenden Soldaten die Angst aus den Gliedern trommelte. Und auf dieser Trommel stand Walter.
Aber Walter stand nicht nur da, er dirigierte das große Orchester der Autos, die aus allen vier Himmelsrichtungen Einlass begehrten auf den Platz der Himmlischen Ordnung vor Sankt Martin, von wo möglicherweise Gott herabsah auf seine Kinder, die nach Walters Pfeife tanzten, auf der er nur selten pfiff. Walter war kein großer Pfeifer, er war ein großer Redner. Er redete mit seinen Schützlingen am Steuer, die wie gebannt auf jede seiner Armbewegungen starrten und auf den Augenblick warteten, in dem Walter sie zu sich rufen würde. Der Augenblick kam, wenn Walter sich seitlich drehte und seinen redlich auf der Trommel erarbeiteten Trommelbauch zeigte. Er schaute dann seinen wartenden Schützlingen ins Auge, während er rief: Komm, Moatle, komm!
Mancher Autofahrer – mehrheitlich Männer, die ihre Frauen zur Beifahrerin degradierten, der sie ihr heiliges Auto nicht überließen – war diesem Augenblick kaum gewachsen, verwechselte ein Pedal mit dem anderen, drehte den Zündschlüssel, kurbelte am Fenster. An einer Hand abzuzählen waren unter denen, die ihr Auto nicht von der Stelle brachten, Frauen, für die die Überfahrt über Walters Kreuzung nervlich eine zu große Herausforderung war. Walter erkannte seine Schäfchen von seiner Trommel herab mit einem Blick. Er ließ die Pfeife unbenutzt, mit ihr war in einem solchen Fall gar nicht weiterzu¬kommen, das wusste er schon, sondern murmelte vor sich hin, stieg von seiner Trommel herab und schritt zu seinem nervösen Schäfchen hin. Das Schäfchen kurbelte verstört die Scheibe hinunter und sah Walter verloren an. Der sagte mit ruhigem Bass: Komm, Moatle, druck mir jetzt uff d’Kupplung, genau, jetzt zündo, genau, jetzt dr Gang ilega, siasch, as goat jo. Und jetzt farscht mir los, aber erscht, wenn i dir ’s Zoacha gib, hörscht mi!
Das Schäfchen hielt sich am Steuer fest, dass es fast mit der Nase anstieß, Walter stieg auf seine Trommel, lächelte freundlich, hielt auf der Gegenseite mit majestätischer Geste den Verkehr auf, wandte sich seinem Schäfchen zu und rief: Komm jetzt, Moatle, jetzt goats!
Das Schäfchen hüpfte los, hüpfte bis vor Walters Trommel, zeigte mit einem Finger, dass es links abbiegen wollte, Walter blockierte mit mächtiger Geste den Gegenverkehr, sah sein Schäfchen an und rief: Komm, Moatle, trou di!
Das Schäfchen fuhr an, fuhr aber nicht vor Walters Trommel links ab, sondern hüpfte wie ein Frosch rechts um Walters Trommel herum und wollte sich glücklich aus dem Staub machen, als Walter mit hochrotem Kopf endlich auf seiner Trillerpfeife trillerte, dass alles erstarrte. Das Schäfchen hüpfte noch dreimal, dann hielt es an. Walter stieg von seiner Trommel und steuerte mit entschiedenem Schritt auf das Schäfchen zu. Das Schäfchen sah mit treuherzigem Blick zu ihm auf. Walter hielt hochrot die Luft an, bis sein gerechter Zorn über das verstörte Schäfchen kam. Seine Donnerstimme sprach vom korrekten Linksabbiegen, von Wo den Führerschein gemacht, von Allgemeingefährdung und überhaupt. Das Schäfchen zitterte, ja schlotterte jetzt am Steuer, sodass Walter seine Stimme dämpfte und aufmunternd sprach: Es wird wieder gut, erste Verwarnung, diesmal wegsehen, Verkehrsregla üba, jetzt aber hoam mit dir.
Aber auch Walter kannte die trüben Tage des Lebens. Walter war, soweit er das beurteilen konnte, glücklich verheiratet – zumindest hatte er keinen Anlass gehabt, über diese Frage nachzudenken – und Vater von drei Kindern, die alle recht gerieten. Das Haus war ab¬bezahlt, die Frau rechtschaffen und fleißig, die Kinder waren gesund und folgsam. Im Som¬mer fuhr Walter mit ihnen in die Berge zur Sommer¬frische, einmal sogar auf einen Campingplatz an die italienische Riviera. Von dergleichen hätten seine El¬tern nur träumen können, so weit wären allerdings nicht einmal ihre Träume gekommen. Doch es gab auch die trüben, zähen Tage, an denen hielt einen Mann nicht der Morgengruß seiner Frau, nicht das Geplapper der Kinder, nicht das Anle¬gen der Uniform aufrecht. An solchen Tagen brauchte ein Mann, der langsam in die besten Jahre kam, etwas anderes. Ein anderer Charakter suchte es auf dem Grund des Bierglases oder beim Spiel; Sport war Sache der Vereine. Die Verlockung einer fremden Frau fiel für einen Walter weg. Für einen Walter war die Sache mit den Frauen mit dem Tag der Eheschließung erledigt, da kam keine Unruhe mehr auf.
Das Buch von Wolfgang Hermann erscheint am 5. Februar im Verlag Limbus