Bild einer Familie mit Wunden und Narben

Mutter. Chronik eines Abschieds
Melitta Breznik
Luchterhand
160 Seiten
Schriftstellerin und Ärztin Melitta Breznik erzählt vom Abschied.
Erzählung Familie und Krieg, Traumata im Innen wie im Außen: Auch in ihrem neuen Buch widmet sich die österreichisch-schweizerische Ärztin und Autorin Melitta Breznik bereits aus früheren Werken bekannten Themen. Diesmal legt sie mit „Mutter.“ eine zutiefst persönliche „Chronik des Abschieds“ vor, in der sie vom langen Sterben ihrer Mutter erzählt, die sie hingebungsvoll bis zum Ende begleitet hat.
Routiniert, aber nie beiläufig verwebt die 1961 in Kapfenberg in der Steiermark geborene Autorin darin im Präsens gehaltene Szenen der immer unmöglicher werdenden Pflege mit (gemeinsamen) Erinnerungen aus der Vergangenheit und zeichnet so ein Bild einer Familie mit all ihren Wunden und Narben, die angesichts des nahenden Todes aufzubrechen drohen. Die Erinnerungen reichen bis hinein in die Kleinkindzeit der Autorin, greifen aber auch weit darüber hinaus und thematisieren die (bereits in früheren Büchern aufgearbeitete) Zeit des Zweiten Weltkriegs, dessen Erschütterungen weit in die Familienstruktur der Nachkriegszeit hineingewirkt haben. Im Vordergrund steht freilich die Innenschau einer kinderlos gebliebenen Frau, die sich ihren beruflichen Alltag fernab der Heimat mit der nötigen Distanz eingerichtet hat. Eine Distanz, die nun in ihr Gegenteil umschlägt: „Wir leben hier in Mutters Wohnung wie auf einem eigenen Planeten, abgeschottet von der Welt.“
Als Ärztin fachlich imstande, die Sterbende zu begleiten, geht Breznik als Tochter durch emotionale Krisen. „Ein paar Monate später habe ich laut Mutters Erzählungen das erste Mal ‚Mama‘ zu ihr gesagt und bald werde ich das letzte Mal ‚Mama‘ zu ihr sagen“, heißt es an einer Stelle. Virtuos gelingt es Breznik in ihrer autobiografischen Schilderung, den eigenen Veränderungsprozess zu reflektieren.
Verantwortung
Anfangs noch unsicher, ob das Leiden der Mutter wirklich ernst genug ist, um von der Schweiz in die Steiermark anzureisen, fällt es ihr bei zunehmendem Verfall der Mutter immer schwerer, die Verantwortung abzugeben. Nicht zuletzt dadurch, weil die Mutter sich lange weigert, eine Pflegerin hinzuzuziehen. Der ganz in der Nähe wohnende Bruder ist genauso wie die langjährige Haushälterin lediglich ein selten in Anspruch genommener Hebel, um kurz an die frische Luft zu gehen und dem Sterben für wenige Stunden zu entkommen. In dieser Intimität kommt auch die eigene Mutter-Tochter-Beziehung zur Sprache, die nicht zuletzt durch eine erzwungene Abtreibung in der Teenagerzeit Brezniks tiefe Risse bekommen hat. Dies ist nur eine der vielen, äußerst intimen Schilderungen, die Breznik mit ihrer Leserschaft teilt. Wer bereits selbst in der Situation war, Verwandte in nächster Nähe beim langsamen Sterben zu begleiten, wird sich in vielen Schilderungen wiederfinden. Schließlich geht die Autorin immer wieder auf die Gleichzeitigkeit von Fürsorgebedürfnis und absoluter Überforderung ein, ohne jedoch um Mitleid zu heischen.