Keine zweite Heimat für die Wiener Symphoniker

Die Absage der Bregenzer Festspiele bringt auch für das langjährig tätige Orchester Probleme.
BREGENZ, WIEN Nun stellt sich heraus, dass die durch die Coronakrise ausgelöste in ihrer 74-jährigen Geschichte erstmalige Absage der Bregenzer Festspiele neben den dramatischen kulturellen und wirtschaftlichen Einbrüchen für die Region auch weitreichende Folgewirkungen für das seit dem Gründungsjahr 1946 hier amtierende Orchestra in Residence zeitigt. Die Wiener Symphoniker, die mit 124 Musikern plus Organisation angereist wären, sind damit plötzlich etwa sechs Wochen lang arbeitslos, denn aufgrund der neuen Verordnungen bleibt keinerlei Möglichkeit für praktikable und rentable Opern und Konzerte im Festspielprogramm. Der Einnahmenentfall reißt ein tiefes Loch in die Orchesterkasse. Ein coronataugliches Beschäftigungsprogramm und ein Finanzierungsplan der Orchesterleitung sollen helfen, das Ärgste abzufedern.
Jan Nast, der im Vorjahr als neu bestellter Intendant des Orchesters erstmals Bregenz erlebte, beurteilt die Situation gegenüber den VN: „Wir können die Absage natürlich verstehen, aber wir bedauern das sehr. Bregenz ist längst unsere zweite Heimat, und die Auftritte dort am See, im Haus und bei den Konzerten bilden einen ganz essenziellen Teil unserer musikalischen Identität.“ Seit der endgültigen Absage ist man um Schadensbegrenzung bemüht. Dazu gehören CD-Produktionen im Studio, für die man kein Publikum benötigt. Aber man will es auch mit ersten Konzerten wieder versuchen, die im Juni vor 100, ab Juli vor 250, im August sogar vor 1000 Zuhörern stattfinden könnten. Quirin Gerstenecker, Marketing- und PR-Chef der Symphoniker: „Wir planen, diese Möglichkeiten mit verschiedenen Partnern auszuschöpfen, analog den genauen gesetzlichen Vorgaben, die von der Regierung kommende Woche veröffentlicht werden.“
Einnahmenentfall kompensieren
Durch diese Vielzahl von Aktivitäten hofft die Orchesterleitung, den Einnahmenentfall, der durch die Festspielabsage entstanden ist, zu kompensieren. Das umfasst auch Maßnahmen wie Programmänderungen in der kommenden Saison und die Vorwegnahme von Urlaubsansprüchen aus kommenden Jahren. Intendant Jan Nast: „Nach aktuellem Stand sollten so die Mitglieder der Wiener Symphoniker keine finanziellen Einbußen zu befürchten haben.“ Die Musiker sind Angestellte des Vereins Wiener Symphoniker, der wiederum durch die Stadt Wien subventioniert wird. Das Orchester erwirtschaftet ca. 30 Prozent seines Budgets selbst, in das auch die Einnahmen aus Bregenz einfließen, 70 Prozent sind Subventionen.
Bei einer Umfrage unter langjährig in Bregenz tätigen Symphonikern wird deutlich, wie sehr dieses Orchester als Brückenpfeiler von großer Tragkraft und Breitenwirkung nicht nur künstlerisch, sondern auch menschlich in Bregenz geschätzt und verankert ist. „Heuer den Sommer nicht auf hohem künstlerischem Niveau und unter Freunden in Bregenz zu verbringen, ist für mich ein nur schwer vorstellbarer Gedanke, an den ich mich leider wohl gewöhnen muss“, bringt es Werner Fleischmann auf den Punkt, der 41 Sommer seines Symphoniker-Lebens als Urgestein am großen Kontrabass in Bregenz verbracht hat. Besonders in Erinnerung geblieben sind dem begeisterten Volksmusikanten, der hier auch immer wieder Kurse gibt, die Eröffnung des Festspielhauses 1980 mit Beethovens „Neunter“ unter Karl Böhm und Mozarts „Zauberflöte“ in der Regie von Jérôme Savary. Als Präsident des Vereins Anton Bruckner hat er mit Egon Humpeler auch viele Veranstaltungen für die Freunde der Symphoniker organisiert.
Martin Kerschbaum, seit 1983 bei den Symphonikern, hat es als Solopauker, Schlagwerker und deklarierter echter Festspielfan auf 40 Sommer am Bodensee gebracht. In seiner zweiten Karriere ab 2000 als Dirigent wurde er als musikalischer Leiter der Matineen bei den mit dem Blasmusikverband durchgeführten Blasmusikcamps in Bregenz zum Publikumsliebling. Coronabedingt entfällt heuer auch diese Veranstaltung. Fritz Jurmann