Theater ohne Beißhemmung

Kultur / 03.09.2020 • 18:00 Uhr / 5 Minuten Lesezeit
Theater ohne Beißhemmung
Das Aktionstheater Ensemble spielt wieder. VN/HARTINGER


Stehende Ovationen für die Aktionstheateruraufführung „Bürgerliches Trauerspiel“

Bregenz „Die bürgerliche Realität ist aus nichts anderem zusammengesetzt als aus ein paar Gerechtigkeitsbehauptungen, ein bisschen Tapferkeitsgetue und jede Menge Besonnenheitskitsch“, heißt es einmal. Hinten Käfige, auf der Seite Musiker, vorne Schauspieler, einmal stecken auch diese hinter den Gittern fest. Das Aktionstheater von Martin Gruber spielt wieder. „Bürgerliches Trauerspiel. Wann beginnt das Leben“ war für das Frühjahr vorgesehen. Kenner des Ensembles haben erwartet, dass in der nun auf den Herbst verschobenen Uraufführung das vorkommt, was dann passierte: Pandemie-Lockdown, Veranstaltungsverbote und eine Politik, die eine gesamte Branche völlig vergisst, Einkaufszentren wieder öffnet und den konsumierenden Menschen im Auge hat als wäre der denkende, der reflektierende Mensch bzw. der, der seine kulturellen Eigenschaften über das Spiel entwickelt, nur eine lästige kleine Minderheit, als könne diese ruhig einmal folgenlos hintangestellt werden.

Sie wurden nicht enttäuscht, im Gegenteil, eine derartige Fülle gerade hochaktueller und gleichzeitig allgemein gültiger Fragen bringt Theaterliteratur kaum zum Ausdruck, beim Aktionstheater hat sie allerdings ein einzigartiges Format, das diese Komprimiertheit zulässt.

„Ich könnte durchkotzen“, sagt Horst bei der Uraufführung am Mittwochabend und fasst die Reaktion in einem Bild zusammen.  Er steht auf der Bühne des Theaters Kosmos in Bregenz, einem Raum, den dessen Leiter Augustin Jagg und Hubert Dragaschnig etabliert haben und der auch anderen Ensembles zur Verfügung steht. Auch wenn diese Befindlichkeit auf spießige Einrichtungen gemünzt ist, steht sie pars pro toto über allem: „Da sitzen die Menschen in der Quarantäne gezwungenermaßen in ihren Proleten-Wohnungen und müssen sich diese hässlichen Furniermöbel ansehen. Österreichisches Pressspan. Grässlich!“

Thomas Bernhard anstatt Lessing in dieses „Bürgerliche Trauerspiel“ hereinwehen zu lassen, das der Dichter der Aufklärung als Begriff geprägt hatte, ist eine gute Entscheidung. „Ich zeige sozusagen die Kinder der Bürgerlichen, die irgendwie merken, dass der Wertekanon, den ohnehin keiner differenziert beschreiben kann, nicht mehr taugt“, erklärte Martin Gruber seinen Zugang im Gespräch mit den VN.

Ungeheuerlichkeiten

Die Methode der Texterstellung gemeinsam mit dem Ensemble funktioniert nach wie vor. Wolfgang Mörth war neben Regisseur Martin Gruber als Autor tätig. Beim Aktionstheater tragen die Figuren die Vornamen der Mitspieler und nicht zufällig stehen die Musiker Kristian Musser, Nadine Abado und Alexander Yannilos dieses Mal in einer Reihe mit den Schauspielern Michaela Bilgeri, Horst Heiß, Thomas Kolle und Benjamin Vanjek. Die Musik, das heißt, die Singstimme und viel Schlagwerk, ist integraler Bestandteil dieser Aufführung, in der der einzelne Monolog, der einmal den Alltagsrassismus auf den Punkt bringt, ein anderes Mal den schnellen Sex und wiederum die Ungeheuerlichkeiten, die die Pandemie in den Fokus rückt. Da wird den Krankenpflegern und Hilfsdiensten mit Applaus gedankt, für deren bessere Bezahlung setzt sich kaum jemand ein. Das erinnert an jenes Bild der Ehefrauen von Männern in höheren Militär- und Regierungsrängen, die meinen eine ausreichend gute Tat zu vollbringen, wenn sie für die Soldaten im Feld wärmende Socken stricken. Es ist über hundert Jahre alt. Allein die Rollen haben sich etwas verändert, der Zynismus ist noch da. Ihn in seinen vielen Facetten deutlich zu machen, das beherrschen sie, die Schauspieler des Aktionstheaters in ihrer Härte, in ihrer Naivität und  auch Verletzlichkeit. Selbst eine angedrohte Berührung des Publikums mit den mit Speichel kontaminierten Händen verkommt nicht zum seichten Untergriff. Dass es in diesem „Bürgerlichen Trauerspiel“ außerdem weit mehr Verweise auf Schnitzler als auf Lessing gibt, überrascht nicht, Schnitzler bietet mehr Möglichkeiten zu beißen. Martin Gruber nutzt sie. Das Premierenpublikum erkannte das und reagierte mit stehenden Ovationen.

Weitere Termine: 3. September 20 Uhr, 4 September 18 und 21 Uhr; 5. September 18 und 21 Uhr im Theater Kosmos in Bregenz (Mariahilfstraße 29). Ab 29. September im Werk X in Wien.

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