Im Menschsein berührt

Simone Naphegyi, Pädagogische Hochschule Vorarlberg „,Andorra‘ heißt das Werk von Max Frisch, das mir als 16-jährige Schülerin Antworten auf Fragen gab, die mich auch heute noch zutiefst beschäftigen. Antworten darauf, wie Menschen „das Andere“ konstruieren und im Zuge dessen instrumentalisiert werden können, dieses scheinbar Andere zu bekämpfen. Die Lektüre von Andorra und die Auseinandersetzung mit dem Werk hat mein Denken geprägt. Heute noch bin ich meinem damaligen Deutschprofessor dankbar, dass wir uns im Rahmen des Literaturunterrichts ein ganzes Schuljahr lang mit diesem Stück in allen Facetten, die es zu bieten hat, beschäftigt haben. Vielleicht wäre diese vertiefte Auseinandersetzung im Unterricht heute aus Zeitgründen und in Anbetracht standardisierter Maturaaufgaben gar nicht mehr möglich“.
Persönlichkeiten berichten über ihr besonderes Kulturerlebnis.
Bregenz, Feldkirch Im fantasievollen Spiel erfährt der Mensch das, was ihm Entfaltung ermöglicht. Kunst und Kultur bieten ihm nicht versiegende Inspirationsquellen oder den intensiven Austausch mit anderen Personen. Die Begegnung mit Kunst ermöglicht uns auch ästhetische Erlebnisse oder euphorisierende Augenblicke. Im aktuellen Lockdown gibt vieles nicht mehr. Wir haben Persönlichkeiten gefragt, über ihr besonderes Kulturerlebnis zu berichten, um die Bedeutung von Kunst lebendig zu halten und die Vorfreude auf den Kulturgenuss zu erhöhen. VN-cd, sab

Hubert Dragaschnig, Leiter Theater Kosmos Die Mahler-Aufführung unter dem Dirigenten Kirill Petrenko, das war eines meiner letzten wunderschönen Kultur-Erlebnisse. Dieses Ereignis hat mich auf besondere Art und Weise stolz gemacht hat, dass jemand so etwas komponieren kann, dass es jemand so aufführen kann, dass ich es hören darf, das hat mich in meinem Menschsein tief berührt. Menschen können etwas tun, um sich eine Geborgenheit zu schaffen.


Stefania Pitscheider Soraperra, Direktorin Frauenmuseum Hittisau „Abbracciame cchiù forte“ von Andrea Sannino sangen die Menschen in Neapel von ihren Balkonen in den ersten Tagen des Lockdowns. „Umarme mich fester“, heißt das auf Deutsch. Das Lied des im neapolitanischen Dialekt singenden Cantautore wurde zur Kennmelodie der Hoffnung in der Krise. Die Menschen sangen sich damit gegenseitig Mut zu, kommunizierten, traten in Beziehung. Sie vollbrachten eine genuine Kulturleistung.
Das hat mich zutiefst berührt und mir einmal mehr klar gemacht, dass wir Menschen soziale Wesen und kulturelle Wesen sind. Dass Kultur ein Anker ist in schwierigen Zeiten, dass sie tröstet und ein Bindemittel zwischen den Menschen ist, dass sie die gegenseitige Verantwortung stärkt. Dass Kultureinrichtungen in Österreich in einem Atemzug mit Freizeitparks und Bordellen genannt wurden, hat mich erschüttert. Und klar gemacht, dass wir eine breite Diskussion über den Wert von Kultur in der Gesellschaft jenseits von Freizeitgestaltung und Wertschöpfung führen müssen. Weil wir soziale und kulturelle Wesen sind, auch wenn wir es manchmal zu vergessen scheinen.“

Christian Bernhard, Alt-Landesrat, Medizinischer Sachverständiger im Amt der Landesregierung „Mein erstes Kunsterlebnis war ,Porgy and Bess‘ bei den Bregenzer Festspielen, da war ich acht Jarahre alt, seither ist die Begeisterung für das Musiktheater geblieben. Die intensivste Erfahrung mit dem Phänomen Kunst hatte ich aber viele Jahre später als Kulturlandesrat, als ich den Feldkircher Lyrikpreis überreichen durfte. Was ich bei dieser Veranstaltung erlebt habe, werde ich nie vergessen. Begeisternde Künstlerinnen und Künstler, die mit den unglaublichsten Arrangements von Worten derart eindrückliche Stimmungen und Assoziationen hervorrufen konnten. Wofür es in der Musik ganze Orchester braucht, schafften das an jenem denkwürdigen Abend einzelne Menschen nur mit ihrer Stimme und ihren fesselnden Arbeiten. Seither bin ich Fan moderner Lyrik und freue mich auf viele weitere Erfahrungen.“

Gernot Brauchle, Rektor Pädagogische Hochschule Vorarlberg „Wie wichtig Kunst für mein Leben ist, hatte ich zum ersten Mal so richtig als Schüler im Theater miterlebt. Mit nur 29 Schillingen konnte ich damals eine Theaterkarte kaufen und sogar in der zweiten Reihe vorne sitzen. Diese unmittelbare Nähe zur Bühne vermittelte den Eindruck, direkt auf der Bühne und damit Teil des lebendigen Theaters zu sein. Das Stück, handelte von einem jüdischen Mann, der von einer Frau in einem geheimen Raum ihres Hauses versteckt wurde und thematisierte den Nationalsozialismus, die bedrückende Zeit der überlebenden jüdischen Bevölkerung nach dem Krieg und die schwierige Rolle der Frauen. Dieses Bühnenstücks, das mich quasi in die Geschichte hineinzog, war nicht nur ein unglaubliches emotionales Erlebnis. Es verankerte die Thematik des Nationalsozialismus in meinen Kopf und führte dazu, dass ich in den verschiedenen Stationen meines Lebens immer wieder mich für die NS Zeit interessierte. So las ich jene Bücher über die NS-Vergangenheit von Vorarlberg, die Meinrad Pichler uns empfahl, nahm Anteil an den Berichten von Dr. Fallend über die Schicksale der Zwangsarbeiter während und nach dem Krieg und interessiere mich als Notfallpsychologe bis heute über die Auswirkungen von traumatischen Erfahrungen auf die menschliche Psyche – und wie man diese abmildern kann. Kunst vermag somit nicht nur ein emotionales Feuerwerk zu entfachen, die Selbstbezogenheit zu vergessen oder das kreative Potential zu fördern. Kunst ist Bildung und kann das weitere Leben mitgestalten und auch prägen. Insofern ist Kunst ein bedeutender Beitrag in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft und ermöglicht uns darüber ein besseres Leben zu führen.“

Stephanie Gräve, Intendantin Vorarlberger Landestheater „Nein, meine Kindheit und meine Jugend waren nicht harmonisch. Weihnachten war besonders schlimm, auch so ein Klischee… ich weiß nicht, welches Jahr es war, ich war um die 20, hatte zu studieren begonnen, das Theater entdeckt – und Weihnachten zuhause verbracht. Nach zwei Höllentagen floh ich am 26. in die Nachbarstadt Mülheim, ins Theater. Die wunderbare, viel zu früh verstorbene Schauspielerin Veronika Bayer spielte ,Glückliche Tage‘, in einer Inszenierung von Roberto Ciulli. Nach wenigen Minuten fiel alle Verzweiflung von mir ab; ich war im Hier und Jetzt, in der absoluten Gegenwart. Eins mit dem künstlerischen Erleben. Und dachte: das ist, was ich anderen Menschen geben möchte, Theater. Weil es so viel geben kann.“

Eva Häfele, Sozialwissenschafterin „Zum ersten Mal nach dem Lockdown im März wieder ein Theaterbesuch. Es fühlt sich an wie eine echte Premiere, die Vorbereitung auf den Abend in der Beschäftigung mit dem Inhalt und den Autoren. Das Theaterstück ,Infantizid, Femizid, Suizid‘ findet im Rahmen des Kosmodroms statt. Amos Postner, von dem ich schon einige Aufführungen erleben durfte, und Felix Kalaivanan, ebenfalls ein junger Vorarlberger Autor, der an der Filmakademie in Wien studiert, steigern die Erwartungen. Es wird ein fesselndes und zugleich aufwühlendes Theatererlebnis, das aus verschiedenen Blickwinkeln – dem Besitzer, Immobilienverkäufer und Nachbarn – vom Ort einer schrecklichen Bluttat erzählt. Alle haben einen ganz persönlichen Bezug zum Tatort und die Zuschauerinnen werden allmählich tiefer in die sehr persönlichen Geschichten hineingezogen und spüren irgendwann, dass dieser banale Ort des Grauens noch lange nach den Morden ein Ort der Tat bleiben wird. Die meisten verlassen den Theatersaal schweigend, die Lust auf ein Glas Wein und eine leichte Unterhaltung verschiebe ich auf den nächsten Theaterabend.“

Lisa Suitner, Clownfrau „Es war September 2019, die Erde lief ihre Bahnen und noch konnte sich keiner vorstellen, was alles bald nicht mehr möglich sein wird. Innerhalb weniger Monate hat sich unser Leben verändert- Undenkbares wurde normal. Normales wurde undenkbar. Im September 2019 war alles noch normal und ich besuchte gemeinsam mit meinen Eltern das Konzert „#6 Nacht“ aus der Reihe „Unter der Laterne“ von und mit Andreas Paragioudakis im Theater am Saumarkt . Es war ein magischer Abend. Die Musik hat uns mit auf eine Reise genommen- durch Klangwälder und über Melodien- Landschaften, hinein in die mystische Nacht. Ich erinnere mich an den Moment als ich meine Augen geschlossen habe und mich die Musik durch die Luft getragen hat, ich mich der totalen Hingabe der Musiker anschließen konnte, mich schwerelos fühlte und immer tiefer in den Sessel sinken ließ. Als ich die Augen wieder öffnete blickte ich zu meinem Papa, der neben mir saß und dessen Augen leicht glänzten- so, als wäre er gerade mit mir geflogen. Musik hat uns immer schon verbunden. Dieses Konzert war das letzte Konzert welches ich mit meinem Papa besuchte. Nach langer, schwerer Krankheit hat er diese Welt im April 2020 verlassen. Dieser Herbst ist kälter als sonst. Ich kann zwar überall an meinen Papa denken und unsere gemeinsamen Erinnerungen hochleben lassen- aber die Magie der Musik, welche nur im Live Konzert glänzt, und welche mich direkt in die Arme meines Papas führt, auf die warte ich voller Vorfreude.“

Hubert Dragaschnig, Leiter Theater Kosmos Die Mahler-Aufführung unter dem Dirigenten Kirill Petrenko, das war eines meiner letzten wunderschönen Kultur-Erlebnisse. Dieses Ereignis hat mich auf besondere Art und Weise stolz gemacht hat, dass jemand so etwas komponieren kann, dass es jemand so aufführen kann, dass ich es hören darf, das hat mich in meinem Menschsein tief berührt. Menschen können etwas tun, um sich eine Geborgenheit zu schaffen.
Die Aussagen wurden im Rahmen einer Kooperation der VN mit Literatur Vorarlberg und dem Theater am Saumarkt gesammelt.