Nichts soll mich ablenken, kein Anruf, kein Internet

Es gibt viele Wege zum literarischen Schreiben. Vielleicht so viele wie es Schreibende gibt. Ich möchte hier über meinen Zugang zum literarischen Schreiben erzählen. Man möge meine Tipps mit einem Apothekerschrank vergleichen. Dort gibt es Dutzende Schubladen, und hinter jeder Schublade öffnet sich ein Tipp. Und wenn ihr die eine oder andere Schublade öffnet, den Inhalt betrachtet, sagt ihr vielleicht. Doch, das ist etwas für mich. Das kann ich gut gebrauchen. Und dann dürft ihr diesen Gedankentipp nehmen und nach eurem Belieben verwenden.
Bevor ich eine Geschichte schreibe – und das liegt an meinem Interesse für Historisches – recherchiere ich meistens sehr intensiv. Oft lese ich Tausende Seiten, mache mir Notizen, und manchmal entdecke ich während der Recherche interessante historische Aspekte oder Details, die ich in meinen Texten verarbeite. Dieses Recherchieren ist für mich fast wie eine Schatzsuche, und es macht mich immer wieder glücklich, wenn ich einen solchen Schatz gefunden habe.
Schreibblockaden oder Ähnliches kenne ich eigentlich nicht. Ich denke mir immer, wenn ich keine Geschichte zu erzählen habe, weshalb sollte ich mich dann hinsetzen und eine erzählen wollen. Ja, ich schreibe nur dann, wenn ich das dringende Bedürfnis dazu habe, etwas erzählen zu müssen.
Bevor ich zu schreiben beginne, ziehe ich mich zurück. Alleinsein ist für mich in dieser Vorphase des Schreibens fast das Wichtigste. Manchmal suche ich mir besondere Orte aus. Abgelegene Alphütten mag ich, einsame Inseln, einsam in der Landschaft stehende Häuser. Nichts soll mich ablenken, kein Anruf, kein Internet, kein Gespräch. In den ersten Tagen mache ich meistens ausgedehnte Spaziergänge oder Wanderungen. Ich komme zu mir. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich vergleiche es mit einem See, auf dem zuerst Wellen tanzen, ein See, der in Bewegung ist und der still und ruhig werden soll, um aus seiner Tiefe Kostbares schöpfen zu können. Erst wenn der See ganz still ist und die Oberfläche glatt wie Glas, beginne ich zu schreiben. Das Zur-Ruhe-Kommen dauert meistens eine Woche. Von Tag zu Tag spüre ich dann, wie ich in mich selbst abtauche, abgeschieden von der Welt, hingewendet zur Literatur und der Geschichte, die ich schreiben will.
Der Beginn und viele Post-its
Ich weiß also meistens schon vorher, was ich worüber schreiben will. Ich weiß nur noch nicht, wie ich es erzählen werde. Alles liegt noch verborgen hinter einem Nebel. Ich ahne aber schon, welche Protagonisten bald die Bühne betreten werden, welchen Charakter sie haben werden. (Manchmal denke ich mir in dieser Phase: Es ist wie Gottsein. Man erschafft in seinem Kopf Menschen, man erschafft Orte, Handlungen, die es real nicht gibt. Man erschafft eine Welt, die zuerst nur im eigenen Kopf existiert und dann über den Text lebendig wird.)
Während des Nachdenkens habe ich immer einen Vorrat an Post-its in meiner Nähe. Kommt mir ein Gedanke zum Text, und meistens sind es sehr umfangreiche Texte, also Romane, schreibe ich diesen Gedanken in kurzen Stichworten auf. Diese Stichworte sind mit einzelnen Szenen von Filmen zu vergleichen. Jedes Post-it ergibt später eine Szene im Text.
Tage-, wochenlang denke ich dann nach und beschreibe ein Post-it nach dem anderen. Am Ende sind es zwischen 100 und 200 solcher Post-its, die ich später in eine chronologische Reihenfolge bringe und auf ein Endlospapier klebe. Diese Phase ist vielleicht die wichtigste. Hier gilt es sehr genau zu arbeiten, denn die Reihenfolge gibt später den Ablauf der Geschichte vor.
Diese Vorgangsweise hat für mich einen sehr großen Vorteil. Ich habe schon Bücher mit einem Umfang von 500 Seiten geschrieben. Wenn ich wild drauflosschreiben würde, bestünde die große Gefahr, mich zu verirren und im schlechtesten Fall in einer erzählerischen Sackgasse zu landen. Dann wäre vielleicht die gesamte Arbeit umsonst. Mithilfe der Post-its auf dem Endlospapier kann das nicht mehr passieren. Die Geschichte ist strukturiert.
Nachdem ich die Vorarbeit abgeschlossen habe, beginnt der Akt des Schreibens. Ich vergleiche den Beginn dieses Prozesses immer mit einer Schraube, die man in eine Schraubenmutter dreht. Der Beginn, also der Moment, in dem die Schraube in der Schraubenmutter greift, ist vermutlich der wichtigste Vorgang. Wenn die Schraube eingedreht ist – so ist es zumindest bei mir – läuft alles wie auf Schienen.
Von Hand
Ich schreibe meine Texte meistens von Hand. Für mich ist dieses Tempo ideal. Und es hat etwas Physisches. Der Text fließt über die Tinte sozusagen aus mir heraus. Beim Schreiben der einzelnen Szenen gibt es jedoch noch eine Besonderheit. Ich gehe vor wie ein Regisseur. Ich schreibe dieselbe Szene so oft, bis ich mit ihr zufrieden bin. Es kommt vor, dass ich einzelne Szenen bis zu sieben Mal schreibe. Danach extrahiere ich von den einzelnen Varianten eine Szene.
Am Ende übertrage ich den Text in den Computer, füge die einzelnen Szenen zu einem Gesamttext zusammen und beginne mit der Überarbeitung. Meistens streiche ich Passagen, kürze Sätze. Dieser Vorgang wiederholt sich so lange, bis ich den Text flüssig durchlesen kann. In der Regel sind es sieben Durchläufe, bis der Text fertig ist.
Zur Person
Jürgen-Thomas Ernst
Geboren 1966 in Lustenau, aufgewachsen in Hohenems, lebt in Bregenz
Veröffentlichungen Zahlreiche Romane, darunter „Schweben“, „Anima“; Theaterstücke wie „Karoline Redler“
Auszeichnungen mehrere Preise, darunter Theodor-Körner-Preis, 3. Preis bei der Floriana
Die Aufforderung zum Selbstschreiben ist eine Kooperation der Vorarlberger Nachrichten mit Literatur Vorarlberg und dem Theater am Saumarkt in Feldkirch.