Die Rolle der Schelme und Trickser erörtert

Kultur / 09.07.2021 • 20:11 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Daniel Kehlmann stellte seine subjektive Sichtweise zum Meisterwerk „Simplicius Simplicissimus“ von Grimmelshausen vor. lech-Zürs/Schoech
Daniel Kehlmann stellte seine subjektive Sichtweise zum Meisterwerk „Simplicius Simplicissimus“ von Grimmelshausen vor. lech-Zürs/Schoech

Erstes Literaricum Lech mit Daniel Kehlmann, Michael Köhlmeier und Raoul Schrott eröffnet.

Lech Nachdem sich das Philosophicum Lech in den letzten 25 Jahren zu einer festen Größe etabliert hat, wurde es Zeit für den nächsten Schritt: das Literaricum Lech. Die Kulturjournalistin Nicola Steiner, die diese Veranstaltung kuratiert, verwies in ihrer Begrüßung auf den französischen Schriftsteller Mathias Énard: „Kein Mensch, kein Werk verschwindet spurlos in den Weiten des Universums, stattdessen findet permanent eine Wandlung, eine Verwandlung statt. Jeder hinterlässt Abdrücke und Spuren, die sich auf eigenartigen, verschlungenen und rätselhaften Wegen über Generationen hinweg in den Nachfahren und deren Wirken manifestieren.“

Diese Passage könne als Bild dafür genommen werden, was die Besucher beim Literaricum erwarte: „Wir wollen in jedem Jahr auf Spurensuche gehen und uns dabei an einem literarischen Leitstern vergangener Tage orientieren. Dabei werden wir darüber diskutieren, inwieweit dieser Klassiker der Weltliteratur heute noch zu uns spricht und uns eine Richtung zu geben vermag.“ Das Literaricum Lech wird sich von gängigen Literaturveranstaltungen insofern abheben, dass es nicht auf aktuelle Verlagsprogramme und saisonale Sensationen eingehen muss, sondern sich allein dem Erkenntnisgewinn einer hochwertigen Literatur widmet – im Speziellen deshalb, da es einen lebendigen Zugang zu ihr anbietet.

Die Bedeutung von Literatur

Michael Köhlmeier, der neben dem Autor und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott zu den Ideengebern und Mentoren dieser neuen Formatserie zählt, ging in seiner Rede auf die Rolle der Literatur ein: „Große Dichter und Poeten können uns ganz einfache, scheinbar belanglose Dinge unserer Welt so zeigen, als ob wir sie das erste Mal sähen. Wenn man das beim Lesen erlebt oder begriffen hat, wird man nie aufhören, die Literatur zu lieben.“ Jemand anderen zu kennen, selbst wenn man über Jahre mit ihm zusammenlebe, sei nicht wirklich möglich: „Wir können bei niemand bis in den innersten Punkt schauen. Ein großer Poet vermag es aber, das Innenleben eines Menschen in einer Tiefe auszuleuchten, die wir unter Umständen nicht für möglich gehalten haben. Wir können nie aufhören, die Literatur zu lieben, wenn wir einmal infiziert worden sind.“ Ein spannendes Phänomen bestehe in einem Dreieck: Indem jemand einem anderen etwas vorlese, sei immer ein Dritter dabei, nämlich der Autor.

Pikaresker Roman

Daniel Kehlmann stellte in der Eröffnungsrede seine subjektive Sichtweise zum Meisterwerk „Simplicius Simplicissimus“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen vor. Es handle sich um einen pikaresken Roman: „Ein reuiger Sünder blickt zur Belehrung seiner Leser auf sein lasterhaftes Leben zurück. Dies erlaubt, viele Verwirrungen, aber vor allem auch unanständige Dinge zu erzählen, deren Erwähnung in dieser Zeit ansonsten verboten wäre. Außerdem erlaubt diese Form auch eine doppelte Erzählhaltung. Da wird ‚Ich‘ gesagt, doch dieses ‚Ich‘ steht gleichermaßen für den ahnungslosen Kerl, der die Abenteuer erlebt, wie auch für den abgeklärten Menschen, der zurückblickt. Man kann ständig von einer Perspektive in eine andere wechseln. So kann man Satz für Satz die Gewichtung verschieben, also weise sein und gleich darauf ein Dummkopf. Man kann ‚Ich‘ sagen, ohne es ganz zu sein und ohne es ganz nicht zu sein. Und man kann immer neu beginnen – beim Nichts, einer Tabula rasa.“ Kehlmann empfahl, den Abenteuer- und Schelmenroman Simplicissimus im Original zu lesen: „Es lohnt sich der Mühe, denn Sprachen beginnen nicht simpel, um sich dann zur Komplexität zu entfalten. Im Gegenteil: Das frühe Neuhochdeutsch gefällt sich in seiner Kompliziertheit und findet erst im 18. Jahrhundert zum Ideal der Einfachheit.“ Die Hauptfigur des Romans habe keine Identität und sei auch keine große literarische Gestalt, sie habe aber eine Stimme. Der Erzähler gebe zwar eine Belehrung vor, aber es gehe vorwiegend um die moralfreie Universalität dieser Stimme. Grimmelshausen schreibe über keinen soliden Helden, sondern über dessen wechselnde Identitäten. Beim Literaricum soll die Thematik des jeweilig besprochenen Werks als Echo-Kammer mitschwingen, dies soll aber nicht aufdringlich umgesetzt werden. So stellte sich beispielsweise in Bezug auf den „Simplicissimus“ die Frage, welche Rolle Schelme und Trickser in Gesellschaften spielen.

Tarrantino-hafter Plot

Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Katharina Teutsch bezeichnete im Rahmen einer spannenden Matinee mit dem Schweizer Literaturexperten und Autor Thomas Strässle am Freitag den „Simplicissimus“ als den ältesten Bestseller in deutscher Sprache mit einem regelrecht Tarrantino-haften Plot.

„Wir können nie aufhören, die Literatur zu lieben, wenn wir einmal infiziert worden sind.“

„Der Simplicissimus ist der älteste Bestseller in deutscher Sprache.“

Michael Köhlmeier: Beim Vorlesen ist der Autor als Dritter immer dabei.
Michael Köhlmeier: Beim Vorlesen ist der Autor als Dritter immer dabei.

Das Literaricum-Programm wird am 10. Juli, ab 10 Uhr, auf der Kriegeralpe und am Nachmittag im Burg Hotel fortgeführt. Auftretende: Raoul Schrott und Felicitas Hoppe.