Wie man in der Welt herumkommt und ihr doch nicht entgeht

Kultur / 24.09.2021 • 18:37 Uhr / 3 Minuten Lesezeit

Bregenz Doch, man kommt ganz schön herum, wenn die Wege frei sind und der Reisende genug Fantasie bzw. Background aufbringt, um sich von den Trampelpfaden des Tourismus zu lösen. Auf geht´s: Von Barbizon, südlich von Paris, über Pont-Aven, tief in der Bretagne, nach Capri, Taormina, ein erstes Mal übers Meer, nach Korfu, ein Riesenschlenker nach Worpswede, noch weiter hinauf nach Skagen in Dänemark, wieder hinunter nach Tanger, richtig: Afrika, schließlich zurück ins beschauliche Tessin, zum Monte Verità, und dann ins Salzkammergut, nach Altaussee. Was ist das für eine Tour? Niemand wird diese Reise so auf sich nehmen. Nicht zuletzt deshalb, weil jeder dieser Orte für sich steht und ein viele und gründliche Bedürfnisse stillendes Ziel für einen längeren Aufenthalt darstellt.

Schon auf den zweiten Blick offenbart sich ein roter Faden. Es handelt sich um Orte, an denen sich im Lauf der vergangenen gut 150 Jahre mehr oder weniger berühmte Künstler kolonieweise angesiedelt haben. Fern vom Getriebe der Städte und vom Geschiebe der Menschen haben Maler, Schriftsteller, Dichter, aber auch Wissenschaftler und Philosophen die Abgeschiedenheit gesucht. Mit Tourismus im modischen Sinne hat das nichts zu tun, mit Erholung oder Nichtstun oder Sightseeing auch nicht. Schon eher war es der Genius loci, der für Inspiration sorgen sollte, für kreativitäts- und konzentrationsfördernde Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Demokratisiertes Aussteigertum

Die Aussteiger nämlich waren eher Einsteiger; nicht der Abschied von der Welt, sondern ihre Eroberung bildeten das Projekt von Jean-François Millet, Truman Capote, Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke, Otto und Paula Modersohn, Arthur Schnitzler, Hermann Hesse und zahlreicher weiterer Künstler an ihren Sehnsuchtsorten. Doch der Begriff täuscht, denn die Sehnsucht galt nicht primär diesen Orten, sie war viel umfangreicher und letztlich vielleicht unstillbar. Aber gerade die Unstillbarkeit der Sehnsucht wollte zelebriert werden.

Es mag ein Zeichen der Zeit sein, dass sich das Aussteigertum demokratisiert hat, d. h. zu einer Großveranstaltung mit Publikum geworden ist. Von der phil.cologne, dem Festival der Philosophie in Köln, über Literaturfestivals zwischen Zürich und Berlin bis zum Lecher Philosophicum: Allenthalben werden Orte wenn nicht geschaffen, so doch aufgesucht, an denen man sich (und andern) die Welt erklären kann, ohne allzu sehr von ihr gestört zu werden. Das ist ein kluges Unterfangen, manchmal auch ein elitäres, oder ein verzweifeltes, oder beides. PEN

Lesetipp: Andreas Schwab, „Zeit der Aussteiger. Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità“, C. H. Beck.