Wie sich die Region als Musicalschmiede etabliert

“Lady Bess” heißt das nun uraufgeführte neue Werk: So ziehen die Royals immer.
St. Gallen Schon mit “Don Camillo & Peppone” aus der Feder von Michael Kunze und Dario Farino, einem Werk, das erst nach der Uraufführung in der Schweiz ins Wiener Ronacher kam, hat sich das St. Galler Theater als Musicalschmiede etabliert. Mit “Wüstenblume” von Gil Mehmert und Uwe Fahrenkrog-Petersen kam vor zwei Jahren eine Produktion auf die Bühne, mit der man dokumentierte, dass auch so schwierige Themen wie das Schicksal des aus Somalia stammenden Topmodels Waris Dirie in diesem Genre transportierbar sind.
Nun haben zwei Superstars der Rockmusiktheaterszene, nämlich Michael Kunze und Sylvester Levay, St. Gallen zum Uraufführungsort auserkoren: “Lady Bess” behandelt den Aufstieg der jungen Elizabeth Tudor zur Königin von England. Die Eckdaten der Karriere der Tochter von Heinrich VIII. und seiner zweiten Frau Anne Boleyn sind gut recherchiert, die Story selbst ist oft fiktiv bzw. den unterhaltsamen, rührenden und dramatisch-pathetischen Effekten geschuldet, die eine solche Produktion braucht, wenn sie Zugkraft haben soll.

Angesichts der Tatsache, dass wohl auch niemand Donizetti und seinen wechselnden Librettisten den recht freien Umgang mit historischen Fakten bei “Anna Bolena”, “Maria Stuarda” oder “Roberto Devereux” ankreiden würde, ist die Diskussion um die Authentizität obsolet. Auch die Frage, ob der Belcanto höher zu bewerten ist als ein rockiger Schlager, stellt sich nicht. Kurzum: So ziehen die Royals immer, “Lady Bess” ist als “europäische” Umarbeitung einer ursprünglich für Japan erstellten Fassung eine hochprofessionelle Produktion mit einem ebensolchen Cast.

Wer bislang die Geschichte von Elizabeth I. nur im Zusammenhang mit den sechs Frauen von König Heinrich VIII., aufgrund der Tatsache, dass ein Zeitalter nach der Regentin benannt wurde oder angesichts bildlicher Darstellungen gestreift hat, ist nach dem Musicalbesuch vielleicht gewillt etwas mehr über die Zeit zu erfahren. Auch damit wäre schon viel erreicht. Liedtexter Michael Kunze dichtet seiner Bess eine bühnenwirksame Jugendliebe an und konzentriert sich ansonsten auf das schwierige Verhältnis zu ihrer Halbschwester Mary Tudor, der ersten Tochter Heinrichs aus der Ehe mit Katharina von Aragon. Im Mittelpunkt steht ein Machtgefüge, das auch in der Ausdeutung einer Musicalhandlung interessante Details enthält. Die Abkehr von der Autorität des Papstes, die Heinrich vollzog, hatte das Land in Lager gespalten, Mary stand für die strengen Katholiken, Elizabeth für die liberalere Church of England. Laut damaligem Absolutismus riskierte jeder Kopf und Kragen, der nicht dem Souverän folgte und dass den papsttreuen Klerikern keine Intrige zu grausig war, lässt sich nachlesen, schließlich ging es diesen nicht um die Position im Himmelreich, sondern vor allen um jene am irdischen Futtertrog.

Daraus lässt sich ein spannendes Märchen um Gut und Böse spinnen, in dem Marys machtgieriger Erzbischof schließlich aus jenem Giftbecher trinken muss, den er Elizabeth zugedacht hatte und in dem sich der weise Lehrer der jungen Prinzessin ob seiner Wissenschaftsgläubigkeit (die den Katholiken nicht behagte) ständig in Gefahr bringt. Worin sich die so kräftig melodiös besungene und aus dem Orchestergraben temperamentvoll unterstützte persönliche Stärke von Lady Bess zeigt, lässt sich kaum ergründen, die wirkliche Elizabeth hatte alle falschen Anschuldigungen, die schon in jungen Jahren gegen sie vorgebracht wurden, mit kluger Rede wegargumentiert, die Bess im Musical ist aber immerhin ein tapferes Mädchen, das trotz Kerkerhaft nicht verzweifelt und dem der Geist der einst geköpften Mutter Mut zuspricht. Das ist eine schöne Idee in dieser fantastisch gut durchchoreografierten Inszenierung von Gil Mehmert, in der die stimmlich versierten Darstellerinnen und Darsteller in tollen Kostümen die gesamte Bühne ruckzuck mitbewegen. Daraus entstehen mitreißende Bilder, die Katia Bischoff (Bess) und Wietske van Tongeren (Mary) konzentriert auf die Spitze treiben und die beim Auftritt von humorvollen Musikern oder einem unwiderstehlichen Prinzen Philipp (Lukas Mayer) samt einem Conchita-Wurst-Verschnitt im Gefolge enorm viel Spaß machen.
Nächste Aufführungen des Musicals “Lady Bess” im Theater St. Gallen am 4. und 5. März sowie zahlreiche weitere Termine: theatersg.ch

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