Ein echter Verdi verträgt auch diese Sichtweise

Ovationen für „La Traviata“ unter besonderen Umständen.
St. Gallen Blaugelb sind nicht nur die Tonhalle und der Umbau, das Ausweichquartier des im Ausbau befindlichen Theaters St. Gallen, angestrahlt, auch auf der Bühne sind die Farben der Ukraine beim Eintritt des Publikums vorherrschend, das sich von den Sitzen erhebt, wenn das Ensemble im Gedenken an das Leid der vom russischen Angriffskrieg betroffenen Menschen noch vor der Verdi-Ouvertüre die ukrainische Nationalhymne anstimmt.
Zweieinhalb Stunden später steht es wieder, so schnell ist sich ein Auditorium selten einig, etwas Außergewöhnliches erlebt zu haben. Mit noch am letzten Tag bis aus Innsbruck angereisten Choristen, die für die reihenweise erkrankten Kollegen eingesprungen sind und trotz weitgehendem Verzicht auf die Orchesterhauptproben konnte am Samstag eine pandemiebedingte Premierenabsage der „La Traviata“-Produktion verhindert werden. Sie ist musikalisch, unter der Leitung von Modestas Pitrenas, kompakt, ob eines Ensembles, das ein gemeinsames Klangempfinden verdeutlicht, ein besonderes Ereignis und hält szenisch inspirierende Sichtweisen parat.

Mit dem mittlerweile durchdeklinierten Kontrast zwischen einer saturierten Gesellschaft und dem Rotlichtmilieu, in dem Violetta Valery arbeitet, hält sich die junge Schweizer Regisseurin Nina Russi nicht auf, auch die Verlogenheit vergnügungssüchtiger Bürger wurde in Inszenierungen des 1853 uraufgeführten Opernhits von Giuseppe Verdi nach dem Dumas-Roman „Die Kameliendame“ bereits ebenso ausgeleuchtet, wie die Tatsache, dass der Tod von Anfang an im Raum ist. Violetta, bei Russi eine selbstbewusste Frau mit Kind, verliebt sich zwar in Alfredo (die Musik ließe gar nichts anderes zu), bemüht sich aufgrund ihres schlechten gesundheitlichen Zustands aber in erster Linie um eine finanziell gut situierte Familie für ihre kleine Tochter. Am Ende dämmert Vater und Sohn Germont ihre Borniertheit, vor den fragenden Augen eines Kindes scheinen sie sich zu jener Sorte von Männern gewandelt zu haben, die in der Gegenwart angekommen sind.

Die Personenführung ist ohne Störfaktoren entsprechend angepasst, dass über die Chorregie nur kleinere, hinsichtlich der Genderdiskussion verwertbare psychologische Aspekte herauszukitzeln waren, ist ob der erwähnten Kalamitäten nachvollziehbar. Das Gerüstkarussell von Ausstatterin Julia Katharina Berndt ist zwar nicht schön, aber als Versinnbildlichung der Situation Violettas brauchbar und wenn man dann noch weiß, dass es einem Gewächshaus bei Dresden ähnelt, in dessen Mitte ein Kamelienbaum steht, erhält es als einziges Bühnenbild seinen Reiz. Jedenfalls wird die geschmeidige Stimme der Südafrikanerin Vuvu Mpofu (Violetta Valéry) von keinerlei Kraxelei beeinträchtigt. Ihr Sopran hat jenes bisschen mehr an Leuchtkraft, das auch jene fast zu Tränen rührt, die gewiss nicht nahe am Wasser gebaut haben. Francesco Castoro (Alfredo Germont) überzeugt mit einem weichen Timbre, das auch den voluminösen Bariton von Kartal Karagedik (Giorgio Germont) auszeichnet. In einer „Traviata“ einmal keine Spur von Schärfe, aber dennoch Ausdrucksstärke zu hören, ist so begeisternd wie wohltuend. Die weiteren Solisten, der Chor und auch der Orchestergraben erzeugen eine Farbenmixtur, der es weder an Pracht noch an Verdi-Schmelz und schon gar nicht an Differenzierung fehlt.

Zahlreiche weitere Aufführungen von „La Traviata“ ab 22. März im Theater St. Gallen: theatersg.ch
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