Mitreißend gelungenes Orchesterexperiment

Kolja Blacher erwies sich beim Symphonieorchester Vorarlberg als Idealfall einer Personalunion von Geiger und Dirigent.
FELDKIRCH Messerscharf und punktgenau fallen zu Beginn die ersten Orchesterschläge von Beethovens „Coriolan“-Ouvertüre. Sie signalisieren auch für den weiteren Verlauf höchste Präzision, obwohl kein Dirigent vorne steht. Das Symphonieorchester Vorarlberg hat sich bei seinem 5. Abo-Konzert am Samstag im Montforthaus auf ein Experiment eingelassen, das sich „Play-Lead“ nennt und zum Markenzeichen für den Deutschen Kolja Blacher geworden ist, der in seiner Person die Funktion des Violinsolisten wie des Dirigenten ideal verbindet und damit seit fünf Jahren international reüssiert. Damit löst das SOV-Management auch seine Zusage ein für das im September 2020 wegen kurzfristiger Corona-Beschränkungen entfallene Konzertprojekt.

Am Beginn sitzt Blacher am Konzertmeisterpult, gibt minimale Einsätze mit dem Geigenbogen. Und es funktioniert grandios, weil jede und jeder in diesem als vergrößertes Kammerorchester mit etwa 50 Musikern besetzten SOV ganz vorne an der Stuhlkante sitzt und damit in höchster Konzentration einen Teil der Verantwortung für das Gelingen dieses Konzertes übernimmt. Die Größe des Orchesters und das Repertoire sind das eine, das gegenseitige Vertrauen zwischen Dirigent und Musikern das andere, damit das funktionieren kann. Jedenfalls ist da von Anfang an unglaubliche Spannung im Spiel, die auch den fast vollen Saal erfasst.

Und trotzdem bleibt die Musik nicht steril und allein auf kalte Perfektion ausgerichtet. Auch Beethovens „Coriolan“, ein knapper Geniestreich der Orchesterliteratur, beginnt sofort zu leben, sich zu artikulieren vor allem in den diesmal besonders geschlossen und klangvoll aufspielenden Streichern. Man spürt, da war mit dem 59-jährigen Blacher ein Könner am Werk, der immerhin mehrere Jahre unter Abbado als Konzertmeister bei den „Berlinern“ wirkte, der von seinem namhaften Komponisten-Vater Boris die besten Musik-Gene mitbekommen hat und der sich im Übrigen keinen Deut um das Publikum schert, eher verschlossen wirkt, ganz in seiner Musik versunken, dafür mit seinem unglaublichen Charisma die Musiker ebenso in seinen Bann schlägt wie die Zuhörer. Für sie wird allein die erste Begegnung mit dieser faszinierenden Musikerpersönlichkeit zu einem prägenden Eindruck dieses Abends. In der Nr. 95 c-Moll aus Haydns späten Londoner Symphonien nimmt Blacher nochmals seine Funktion vom ersten Pult aus wahr, betont die Schönheit der melodischen Einfälle, entkleidet aber das Menuett von jeder gravitätischen Behäbigkeit – „Papa“ Haydn war gestern, heute gibt man ordentlich Stoff und lässt dabei auch den herrlichen Solocellisten Detlev Mielke ungehindert zu Wort kommen. Das Finale gerät zum Wirbelwind für eine übermütige Streichertruppe innerhalb eines längst zur Hochform aufgelaufenen SOV, das sich durch diese Spielweise sichtlich angespornt fühlt.
Dort nimmt beim letzten dieser drei Meisterwerke der eigentliche Konzertmeister Hans-Peter Hofmann, langjährig am ersten SOV-Pult tätig und von Petrenko für Mahler wieder reaktiviert, eine wichtige Funktion quasi als Assistent Blachers ein, der nun als Sologeiger vor dem Publikum steht und von einem zweiten Pult aus das Orchester leitet. Es geht um ein relativ wenig bekanntes Solostück von Leonard Bernstein, die fünfsätzige Serenade nach Platons „Gastmahl“, mit einer Vorlage aus der griechischen Antike, die mehr als Vorwand für Programmmusik gelten mag, die sie nicht ist. Jedenfalls ein umwerfendes, erfrischendes Stück Musik von großer stilistischer Vielfalt in der typischen, leicht geschärften und jazzig verbrämten Tonsprache des Amerikaners, den man immer nur auf seine „West Side Story“ reduziert.

Das baut sich zunächst sachte auf mit silbernem Orchesterteppich, Harfe und Schlagzeug und gibt dem Solisten endlich Gelegenheit, auf der Guarneri seine exzellenten geigerischen Fähigkeiten ungeniert auszuspielen, mit einer Sicherheit, die nie auch nur den geringsten Zweifel an seiner geistigen Bewältigung und technischen Überlegenheit aufkommen lässt. Nach dem turbulenten Finale erjubelt sich das Publikum eine Zugabe, die es in sich hat. Denn der zweite Satz aus Bachs a-Moll-Violinkonzert offenbart in einer nie gehörten Reinheit des Solisten, in der satten kernigen Tiefe der Orchesterbegleitung das pure Gegenteil des lockeren Bernstein.
FRITZ JURMANN
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