Eine komplexe Ortsgeschichte
Außergewöhnliches von Wolfang Berchtold und Ulrich Dünser.
Sachbuch Ab dem Jänner 1889 hat der Götzner Kleinbauer und Waldaufseher Ulrich Dünser (1862-1948) in den folgenden 54 Jahren eine Ortschronik geführt, die ihm zu insgesamt 2358 handgeschriebenen Seiten anwuchs. Die von den Nachkommen in Ehren gehüteten fünf Bände wurden nun Wolfgang Berchtold zur Verfügung gestellt, um daraus eine für die Gegenwart relevante Edition zu gestalten. Das bemerkenswerte Resultat dieser ortsgeschichtlichen Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Chronik von Ulrich Dünser ist eine gut 500 Seiten starke Geschichte der Marktgemeinde Götzis von 1889 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914. Diese zeitliche Einschränkung begründet Berchtold damit, dass die untersuchte und beschriebene Zeit 25 entscheidende Jahre für Götzis gewesen seien, weil hier ein bescheidener Wohlstand für die breite Bevölkerung geschaffen worden sei, weil die Basis für die politischen Auseinandersetzungen der folgenden Jahrzehnte gelegt wurde und weil das Hinsteuern auf die Katastrophe von 1914 an unterschiedlichen Indikatoren spürbar geworden sei. Gerade im kleinen Kosmos eines Dorfes zeigen sich die Mutwilligkeit dieses Kriegsbeginns, die menschlichen Opfer und langfristigen materiellen Schäden, die dieser Weltkrieg verursachte, augenscheinlich und damit besonders drastisch.
Wolfgang Berchtold hat seine Ortsgeschichte in acht interessante Kapitel gegliedert, in denen jeweils die Notizen des zeitgenössischen Chronisten durch zusätzliches Quellenmaterial kommentiert, ergänzt und aus aktuellem Wissensstand erweitert werden. Dünsers Vorlage wird Ausgangspunkt und Markierung für eine historische Wanderung, die einen weit größeren Horizont eröffnet als ihn der örtlich und zeitlich gebundene Chronist haben konnte. Wenn beispielsweise bei Dünser festgehalten wird, welche Wirte welchen politischen Lagern zuzuordnen seien, so bildet das für den Historiker Berchtold den passenden Anlass, nicht nur über das ideologisch gebundene Vereinswesen zu reflektieren, sondern auch zu beschreiben, wie die parteipolitischen Gegensätze zwischen Christlich-Konservativen und Freisinnig-Nationalen die gesamte Gemeindepolitik prägten und zu zahlreichen Gehässigkeiten führten. Auch die Grundsätze, auf die sich die Gegner beriefen und deren gegensätzliche Ausrichtung die private Lebensgestaltung und die öffentlichen Geschäfte dominierte, werden von Berchtold einsichtig und in ihren Folgen für das Dorfleben beschrieben.
Neben diesen weltanschaulichen Auseinandersetzungen finden sich in dem Buch auch zahlreiche örtliche Begebenheiten, werden Menschen, Familien und Vereine vorgestellt, das Verhältnis der Damaligen zu ihrer Umwelt beschrieben und vor allem der Siegeszug der Stickerei sichtbar gemacht. In einer der zahlreichen Statistiken und Tabellen wird diese wirtschaftliche Monokultur besonders deutlich: In einer Berufserhebung des Jahres 1909 finden sich 415 Sticker, 21 Nachstickerinnen, 15 Fädler und 14 Fergger. Als nächstgereihte Berufsgruppen finden sich 94 Bauern und 19 Wirte. Ulrich Dünser hat mit seiner Chronik ein einmaliges Dokument hinterlassen, Wolfang Berchtold hat darauf aufbauend eine außergewöhnliche Ortsgeschichte mit trefflichen Gegenwartsbezügen vorgelegt. map
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