“Im Rätselhaften liegt die Magie”

Starker Auftakt zum diesjährigen Literaricum Lech.
LECH „Optimistisch bleiben, konstruktiv sein: Was, wenn man das nicht mehr schafft, wenn wir uns verweigern? Einer der berühmtesten Sätze der Weltliteratur zeigt, wie es geht“, begann die renommierte Literaturkritikerin und Autorin Elke Heidenreich ihre Eröffnungsrede beim diesjährigen Literaricum Lech. „Ich möchte lieber nicht“ ist bei Literaturliebhabern ein wohlbekannter Satz. Es ist der grundlegende Satz aus „Bartleby, der Schreiber“ von Herman Melville. Dieser Satz ist zeitlos, obwohl das Buch bereits 1853 erschienen ist. Entgegen Melvilles üblichen weitläufigen Werken ist Bartleby ein kurzer Essay, in dem der Protagonist sich allem und vor allem auch sich selber verweigert. „Bartleby ist ein rätselhaftes Plädoyer für die Verweigerung, die in ihrer radikalen Konsequenz für uns heute einzigartig ist“, betonte die Kulturjournalistin und Kuratorin Nicola Steiner. „Bartleby ist eine der faszinierendsten Figuren der Weltliteratur, er wirkt aus dem Leben gefallen und überzeugt doch mit seiner Sanftmut. Im Rätselhaften liegt die Magie, ohne die die Literatur nicht auskommt.“ Je mehr sie sich in den letzten Monaten mit Bartleby beschäftigt habe, desto mehr sei ihr Bartleby als sehr mutiger Verweigerer vorgekommen.
Hilfestellungen
Michael Köhlmeier, der gemeinsam mit dem Autor Raoul Schrott das Literaricum initiiert hat, meinte: „Ich bin privilegiert, denn ich muss heute zu keinem Thema sprechen. Ich kann sagen, was ich will.“ Er habe sich sein ganzes Leben lang mit Literatur beschäftigt, sowohl als Leser als auch als Schreiber. Sodann erläuterte er jeweils zwei Hilfestellungen, die ihm sehr hilfreich erscheinen, und zwar einerseits für die Leser, andererseits für die Autoren. So wäre es für den Leser hilfreich, wenn die Lesegeschwindigkeit auf dem Buchrücken des jeweiligen Werkes angegeben werde: „Bei Honoré de Balzac wäre das die 10 als schnellste Stufe, bei Rainer Maria Rilke die 4 und bei Stéphane Mallarmé nur ½.“ Stanislav Lem, der vor allem wegen seinen Science-Fiction-Romanen berühmt ist, habe sich selber als „semantischen Rekonstrukteur“ bezeichnet. „Er setzt präzise Eckpunkte und ich mach mir dadurch ein Bild“, so Köhlmeier. Über einen Satz von Hemingway habe er jahrelang nachgedacht: „Was geschieht eigentlich bei einer Handlung?“ Manche Autoren können wunderbar Handlungen beschreiben, andere eher weniger. Es würden ohnehin ständig zu viele Metaphern verwendet.
Gegen den Optimierungszwang
„I would prefer not to, ich möchte lieber nicht. Wann haben wir den Satz zum letzten Mal gesagt? Darf man nicht mögen wollen?“, diese Fragen stellte Elke Heidenreich. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Wir werden aufgefordert, uns unentwegt zu optimieren, zu funktionieren, unser Leben in den Griff zu kriegen. Wir sollen Sport treiben, uns gesund ernähren, den Müll trennen, die Steuererklärung ordentlich machen, wir sollen lesen, uns weiterbilden, Geld verdienen, eine Maske und Einlegesohlen tragen. Manchmal möchten wir schreien: Nein! Ich möchte das alles nicht. Und dann tun wir es doch. Warum eigentlich? Was passiert, wenn wir verweigern?“
Figuren wie Bartleby gebe es auch andere in der Literatur. Sie verglich den Protagonisten mit Kafkas Hungerkünstler und Gontscharows Oblomow, der lieber im Bett blieb, anstatt aufzustehen und sein Landgut zu verwalten. Doch sie benannte die Unterschiede: „Bartleby ist ein ganz anderer Fall. Der arbeitet zunächst, und als wäre ihm die Sinnlosigkeit aller Arbeit bewusst geworden, verweigert er plötzlich komplett.“ Dieser blicke auf Wände, er befände sich zwischen Wänden, die eine Metapher für sein armseliges Leben geworden sind. „Wir Leser sind mit dieser kurzen Erzählung in etwas Absurdes, Irreales gelangt, etwas, das unser eigenes sicheres Leben mit all seinen Gewissheiten erschüttert. Was ist denn richtig – unsere hektische Aktivität, unsere Glückssuche oder Bartlebys stoische Totalverweigerung, die fast schon etwas Heroisches, mit Sicherheit aber etwas erschütternd Unbegreifliches hat?“, stellte Heidenreich scheinbar grundsätzliche Gewissheiten infrage. BI
Du hast einen Tipp für die VN Redaktion? Schicke uns jetzt Hinweise und Bilder an redaktion@vn.at.