Der berühmte “Reigen” ohne Sex, aber auch ohne Schnitzler

Yana Ross produzierte mit zehn Autorinnen und Autoren einen „Reigen“ mit anderen Skandalen.
Salzburg, Zürich Appropriation heißt es in der bildenden Kunst, wenn Werke anderer bewusst kopiert werden. Die Aneignung aus strategischen Überlegungen nimmt sogar einen breiten Raum ein. Sich Klassikern zu bedienen, ist auch im darstellenden Bereich üblich.
„Nach Arthur Schnitzler“ heißt es dann beispielsweise oder man ändert gleich den Titel, wie es der Österreicher Werner Schwab tat, in dessen „Reizendem Reigen“ die Kopulationsszenen, die Schnitzler nur andeutete, grotesk zugespitzt werden. Roland Schimmelpfennig nannte seine vor einem Jahr in Stuttgart herausgebrachte, die Vorlage klug aktualisierende Bearbeitung gleich „Skizzen aus der Dunkelheit“.
Die Salzburger Festspiele brachten nun als Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich ein Stück mit Titel „Reigen“ mit Erwähnung des Namens Schnitzler zur Uraufführung, das mit dem 1920 in Berlin erstmals präsentierten, skandalisierten und schließlich vom Autor selbst mit einem Aufführungsverbot belegten Text nichts zu tun hat. Es behandelt lediglich Themen wie Abhängigkeit, Doppelmoral, Klassismus, Lebenslügen usw., die Schnitzler ein Anliegen waren und die seitdem in Dutzenden Stücken vorkommen, ohne dass man sich deswegen dieses Titels bedient.
Pech für jene, die nach irgendetwas aus dem berühmten „Reigen“ suchten, nichts fanden und auch am zweiten Aufführungsabend den Saal vorzeitig verließen, während man feststellen konnte, dass von den zehn Stücken von zehn Autorinnen und Autoren mindestens die Hälfte thematisch wie literarisch viel zu bieten hat, auch wenn sie kaum etwas miteinander verbindet. Regisseurin Yana Ross verfrachtete sie dennoch allesamt in eine Art Nobelrestaurant, das ihr Marton Agh baute, hat aber so viel Mühe mit den Übergängen, dass man sich schwer tut angesichts unbeholfener Tänze, Besteckgeklapper oder einem Balancieren auf Tischen und Stühlen in ihr die gute Klassiker-Überschreiberin zu sehen, als die sie sich in Zürich etwa mit einer Tschechow-Bearbeitung bemerkbar machte.
Kurzdramen
Die Besetzung ist mit Sibylle Canonica, Michael Neuenschwander, Lena Schwarz, Matthias Neukirch oder Valentin Novopolskij edel, die unterschiedliche Sprachästhetik wird perfekt beherrscht. Was vom Abend bleibt, sind die griffigeren der zehn Kurzdramen. So lässt etwa Mikhail Durnenkov in einer Videoszene einen jungen Mann seinen geliebten Eltern per Skype erklären, warum er Russland verlassen will und dass das, was in der Ukraine geschieht, ein grauenhafter Krieg ist und keine Militäroperation.
Politisch konnotiert ist auch die Begegnung einer Essensbotin mit einem Trollsoldaten, bei der Sofi Oksanen Propaganda und Rollenbilder souverän einschleust. Leila Slimani thematisiert die Schwierigkeit, sich mit einem Missbrauchsfall bei Gericht zu behaupten und Sharon Dodua Otoo zeigt eine Frau, die ihre Mutterschaft am liebsten rückgängig machen würde und verarbeitet dabei pointiert, was in der momentanen Abtreibungsdebatte schiefläuft.
Der Schweizer Lukas Bärfuss hat noch einen Trumpf in der Hand: Sein Gespräch mit einem Mäzen enthält subtile Verweise auf massive Menschenrechtsverletzungen in Unternehmen, mit denen die Festspiele Sponsorverträge hatten. Ach ja, im weiter nicht bewegenden Text der österreichischen Schriftstellerin Lydia Haider findet dann doch eine Penetration statt. Mit einer Glock. Seit dem Politskandal wissen auch jene, die bislang keine Ahnung von Waffen hatten, was das ist. CD
Weitere Aufführungen bis 11. August bei den Salzburger Festspielen, ab Mitte September am Schauspielhaus Zürich.