Kleinstlebewesen als Exportschlager

Das Kunst- und Wissenschaftsprojekt „Holobiont“ ist von Bregenz nach Wien gezogen.
Wien, Bregenz Unser Körper ist von Billionen von Mikroorganismen besiedelt. Ohne diese gäbe es kein Überleben und zudem stehen sie in ständiger Beziehung zur Umwelt und zu den Mikroorganismen, dem Mikrobiom von Menschen in unserem Umfeld. Für das von der Biosphäre durchdrungene Gesamtlebewesen hat die amerikanische Biologin Lynn Margulis (1938-2011) den aus dem Griechischen abgeleiteten, auf das ganzheitliche Sein verweisenden Begriff Holobiont geprägt. Was Biologen und Medizinern wohl geläufig ist, bringen Kunstinteressierte auch mit einer Ausstellung in Verbindung, die zu den besten aller Projekte zählt, die im letzten Jahr in Vorarlberg und den angrenzenden Regionen realisiert wurden. „Holobiont. Life is other“ hieß es im Magazin 4, wo Judith Reichart, Lucie Strecker, Jens Hauser und Thomas Feuerstein ein hochinteressantes und aktuelles Thema offerierten und damit auch verdeutlichten, wie sich zwei Disziplinen, nämlich Wissenschaft und Kunst, überschneiden.
Symbiotische Lebensgemeinschaft
Angesichts der die Reflexion fördernden künstlerischen Überhöhung von wesentlichen Aspekten im Leben war davon auszugehen, dass es nicht bei einer Präsentation bleibt. Im Angewandte Interdisciplinary Lab im ehemaligen Postsparkassen-Hauptgebäude in Wien ist die leicht adaptierte Ausstellung nun bis 20. Jänner nächsten Jahres zu sehen. Für weitere Stationen in London und Kopenhagen ist man in Verhandlung. Mehr als ein Dutzend Werke, die die Bedeutung von Kleinstlebewesen unterstreichen, sind nun in Wien abzuschreiten. Gerade die Arbeiten des kuratorisch wie künstlerisch tätigen Philosophen und Kunsthistorikers Thomas Feuerstein, der seit Jahren mit Biochemikern kooperiert und etwa im Kunstraum Dornbirn oder in der Bludenzer Remise Projekte realisiert hat, bieten Einstiegshilfen in die Materie. In einer Glasskulptur verbinden sich Süßwasserpolypen mit Chlorella-Algen. Die optisch in reizvollem Grün erscheinende symbiotische Lebensgemeinschaft thematisiert die perfekte Nutzung des Lichts als Nahrungsquelle. Hybride Beziehungen macht Maja Smrekar begreifbar, wenn sie die Haare ihrer beiden Hunde mit ihren eigenen verwebt. Schon in Bregenz konnte man sich damit befassen, inwieweit es Smrekar gelungen ist, ihren Körper so zu manipulieren, dass sie Muttermilch produzieren konnte, um damit einen Hundewelpen aufzuziehen. Dass die medizinische und pharmakologische Forschung die Bedeutung von Mikroorganismen im Stuhl und deren Einfluss auf mentale und kognitive Funktionen untersucht, ist nichts Neues. Lucie Strecker ließ Mikroben aus Stuhlproben von Menschen aus unterschiedlichen soziopolitischen Räumen extrahieren. Um die Komplexität des Themas zu verdeutlichen, gilt es in einer Art Schießbude nicht ins Schwarze zu treffen, sondern sich mit einem Koordinatensystem sozialer Ungleichheit auseinanderzusetzen. Die Beziehung zwischen Menschen und Pflanzen untersucht Spela Petric, indem sie den Wuchs einer Brunnenkresse mit dem Schattenwurf ihres Körpers beeinträchtigt.
Wie so oft empfiehlt es sich nicht nur viel Zeit für den Ausstellungsbesuch aufzuwenden, sondern eventuell mehrmals zu kommen. So lässt sich auch David Berrys Arbeit verfolgen. Er sammelt nämlich die Mikroben in der Atemluft der Besucher bzw. er lässt diese einen Text auswählen, mit dem sie eine Petrischale besprechen. Auf deren Nährboden wachsen die Mikroorganismen dann weiter. Klaus Spiess hat festgestellt, dass Mikroben vor allem von einer vibrierenden Stimme zum Wachstum angeregt werden, also durch Singen oder Stöhnen.
Ausstellung im Angewandte Interdisciplinary Lab, Wien 1, Georg-Coch-Platz 2, 5 bis 20. Jänner 2023, Mo. bis Fr., 13 bis 18 Uhr, Do., 13 bis 20 Uhr.