Ein Jahrhundert später

Vor einigen Tagen wurde in Italien Giorgia Meloni als italienische Ministerpräsidentin vereidigt. Meloni ist seit 2014 Vorsitzende der als postfaschistisch klassifizierten Partei Fratelli d’Italia. Bemerkenswert ist nicht nur, dass Meloni die erste Frau auf dem Stuhl des Ministerpräsidenten (sie wünscht, in der männlichen Form angesprochen zu werden) ist, sondern vor allem ihre politische Herkunft aus der postfaschistischen Szene, die eigentlich überholt sein sollte. Meloni hat vor einiger Zeit den italienischen Diktator Benito Mussolini als „vielschichtige Persönlichkeit“ bezeichnet – eine Aussage, die ihr bei der Wahl offensichtlich nicht geschadet hat.
Man kann und darf nicht annehmen, dass die Neofaschisten unter Giorgia Meloni ähnliche Ziele wie ihre Vorgänger vor hundert Jahren verfolgen.
Bemerkenswert ist nicht so sehr, dass in Italien eine rechtsstehende Regierung an die Macht gekommen ist, auffallend aber doch, dass das fast auf den Tag genau hundert Jahre nach Mussolinis „Marsch auf Rom“ geschieht. Der „Marsch auf Rom“ hatte eine Vorgeschichte. 1922 wurden die Faschisten zur stärksten Massenbewegung des Landes. Sie drohten mit einem „Marsch auf Rom“, wenn ihre Forderungen – vor allem wollten sie Neuwahlen – nicht erfüllt würden. Anfang Oktober 1922 gab es sozusagen eine Generalprobe, den „Marsch auf Bozen“, der sich gegen die deutsche Volksgruppe in Südtirol richtete. Ende Oktober kam es dann zum „Marsch auf Rom“, der von Emilio Lussu als „Schmierenkomödie der Macht“ bezeichnet wurde.
Lussu (1890 – 1984) war zu dieser Zeit Oppositionspolitiker aus Sardinien, der den Aufstieg Mussolinis und der faschistischen „Schwarzhemden“ als Zeitzeuge verfolgte. Er hat dazu – im Jahr 1932, also zehn Jahre nach den Ereignissen – das Buch „Marsch auf Rom und Umgebung“ geschrieben, das 1991 in der Übersetzung des Südtirolers Claus Gatterer im Europaverlag erschienen ist. Das Lektorat bei diesem Buch hatte Ludwig Paulmichl, der Emilio Lussus Augenzeugenbericht nun in seinem eigenen Folio Verlag mit einem Nachwort von Claus Gatterer neu aufgelegt hat. Es ist durch die persönliche Sicht Lussus eine unglaublich spannende Lektüre, Lussu war ja als Abgeordneter nahe an allen Entscheidungen, auch wenn er für seine Überzeugungen in Haft musste. Er kommentiert trotzdem ohne jede Bösartigkeit, aber in ungemein scharfsinnigen Schlüssen und Prophezeiungen, wird damit zu einem der wichtigsten Beobachter dieser entscheidenden Zeit in Italien. Ungeachtet all der beängstigenden Entwicklungen dieser Zeit bleibt Lussu nicht ohne Humor:
Man kann und darf nicht annehmen, dass die Neofaschisten unter Giorgia Meloni ähnliche Ziele wie ihre Vorgänger vor hundert Jahren verfolgen. Aber man darf durchaus vorsichtig sein in der Beurteilung der Aussagen der neuen Ministerpräsidentin und ihrer Mitkämpfer, die alle kein unbeschriebenes Blatt sind. Wir wollen das Beste hoffen – denn wir lieben Italien.