Anne Listers geheime Tagebücher

Kultur / 06.01.2023 • 16:00 Uhr / 5 Minuten Lesezeit
Viktoria Tremmel gestaltete ein sehr freies Porträt von Anne Lister und macht diese ungewöhnliche Lebensgeschichte als bedeutendes immaterielles Kulturerbe fruchtbar.<span class="copyright">Daniel Furxer</span>
Viktoria Tremmel gestaltete ein sehr freies Porträt von Anne Lister und macht diese ungewöhnliche Lebensgeschichte als bedeutendes immaterielles Kulturerbe fruchtbar.Daniel Furxer

Was uns wichtig ist! Herausforderung Kulturerbe.

Bregenz/Feldkirch Anne Lister lebte als Landbesitzerin, die sich unternehmerisch, kulturell und politisch engagierte, unter äußerst privilegierten Bedingungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1791 bis 1841) auf dem Landsitz Shibden Hall in Halifax, Yorkshire. Ein Nachfahre entdeckte viele Jahr später ihre mehr als 24 Bände umfassenden Tagebücher, wobei er die Hilfe eines Antiquars benötigt, um die in Geheimschrift verfassten Texte zu entschlüsseln. Schokiert über den Inhalt, möchten sie zuerst die Bücher verbrennen, jeder Eintrag im Tagebuch beginnt damit, mit wem und wie oft Lister am Vorabend, in der Nacht oder am Morgen Sex gehabt hatte. Lister schrieb detailverliebt sich ausschließlich auf homosexuelle Handlungen beziehend über das weibliche sexuelle Begehren. 

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Die Autorin Angela Steidele verfasst 2017 die Lebensgeschichte von Anne Lister als „erotische Biographie“. „Wäre sie ein Mann gewesen, müsste man sie Frauenheld nennen, Schwerenöter oder Heiratsschwindler, Lüstling, Wüstling oder einfach nur Schuft“, konstatiert Steidele. Derartige Zuschreibungen machen deutlich, dass Sexualität auch heute noch Normen und Idealen folgt, über die sich Anne Lister selbstbewusst hinwegsetzte, und dies in einer Gesellschaft am Beginn des 19. Jahrhunderts, die für lesbische Frauen keinen Platz vorsieht. Sie lebt ihr Leben in Beziehungen mit Frauen. In ihren Tagebüchern hat sie sich ihren eigenen Raum geschaffen und für ihre Sexualität und ihr Begehren eine sehr deutliche Sprache gefunden, die heute ein wichtiger Teil der Gay History ist.

Die aktuelle Ausstellung im vorarlberg museum steht unter dem Motto "Was uns wichtig ist! Herausforderung Kulturerbe".<span class="copyright">Stefan Lux</span>
Die aktuelle Ausstellung im vorarlberg museum steht unter dem Motto "Was uns wichtig ist! Herausforderung Kulturerbe".Stefan Lux

Die Künstlerin Viktoria Tremmel gestaltet fünf Jahre später in ihrer Arbeit “‘Come again a bit, Freddy’, 18. Nov. 1819” für die Ausstellung “Was uns wichtig ist” ein sehr freies Porträt von Anne Lister und macht diese ungewöhnliche Lebensgeschichte als bedeutendes immaterielles Kulturerbe fruchtbar. Ihr Ansatz für das Kunstwerk ist die Gestaltung eines “Setzkastens”, der Details – Texte, Zitate, Dechiffrierungscodes, Porträts usw. – liebevoll zusammenträgt. Die wunderbar sensiblen Zeichnungen, die Tremmels Werk auszeichnen, tragen ganz wesentlich bei zu einem eindrucksvollen Kunstwerk, das bis April im Vorarlberg Museum zu sehen ist. Es ist Teil der Ausstellung “Was uns wichtig ist!”, die sich mit zeitgenössischen künstlerischen Beiträgen zum Kulturerbe beschäftigt:

Ob Kunstwerke, Architektur, Brauchtum oder Handwerk – eine Gesellschaft definiert sich nicht zuletzt über ihre kulturelle Vergangenheit. Die Meinungen jedoch, was heute zum Kulturerbe zu zählen ist, gehen weit auseinander und sorgen für Kontroversen, wenn man beispielsweise an die Denkmaldebatte rund um die Karl-Lueger-Statue denkt. Das Kulturerbe ist nicht mehr von der Tradition vorgegeben, es muss immer neu ausgehandelt werden, will es möglichst inklusiv und damit identitätsstiftend sein. Einen Beitrag zu dieser Debatte um das Kulturerbe liefern zahlreiche Künstler in der aktuellen Ausstellung.

Sabine Benzer führt mit Christa Benzer, der Künstlerin Viktoria Tremmel und der Biographin Angela Steidele durchs Vorarlberg Museum.
Sabine Benzer führt mit Christa Benzer, der Künstlerin Viktoria Tremmel und der Biographin Angela Steidele durchs Vorarlberg Museum.

Am kommenden Sonntag besteht die Möglichkeit, im Rahmen einer Führung mit den Kuratorinnen Christa Benzer und Sabine Benzer, der Künstlerin Viktoria Tremmel und der Biographin Angela Steidele, vor Ort im Vorarlberg Museum über diese außergewöhnliche Frau und historische Persönlichkeit zu sprechen.

Tipps

Angela Steidele, Aufklärung. Ein Roman – Über Verheißungen und

Abgründe im Zeitalter der Vernunft, Eine Liebeserklärung an die Idee der Aufklärung!

Sonntag, 8. Jänner 2023, 10.30 Uhr, Theater am Saumarkt In der Reihe “Biographie – erforschen, erinnern, erfinden?”

 

Führung mit Viktoria Tremmel und Angela Steidele
Sonntag, 8. Jän. 2023, 15.00 Uhr, Vorarlberg Museum


Literaturtipp: Angela Steidele: Anne Lister. Eine erotische Biografie, Matthes & Seitz 2017, 328 S., 28 €.