Der verdienstvolle Vorsteher

Die Bauern des Kleinwalsertals verdankten ihren relativen Wohlstand im 19. Jahrhundert ihrer traditionellen Einbindung in den landwirtschaftlichen Kreislauf des Allgäus. Der saisonale Austausch von Stellvieh, der Verkauf von Jungtieren auf dem Markt von Sonthofen und der Absatz von Butter und Käse in Bayern erbrachten die Einkünfte, die zur Anschaffung von Mehl und anderen notwendigen Konsumgütern nötig waren. Mit der deutschen Reichsgründung von 1870 wurde dieser wirtschaftliche Verkehr durch zunehmende Zollhürden erschwert, zeitweise verunmöglicht. Durch diesen „Zustand der wirtschaftlichen Ab- und Einsperrung“, errechneten die Walser, entstünden ihnen jährliche Kosten von etwa 30.000 Gulden. Das entspricht einer heutigen Kaufkraft von annähernd einer halben Million Euro. Deshalb versuchten die politischen Vertreter des Tales, ein zollpolitisches Sonderarrangement zwischen dem deutschen und dem Habsburgerreich zu erwirken. Dazu wurden Initiativen und Interventionen in Bregenz, Wien und München in die Wege geleitet. Doch die Umsetzung des Projekts wurde durch Einwände, Rücksichten und Bedenken auf den unterschiedlichen Verwaltungsebenen wenn nicht blockiert, so doch auf die lange Bank geschoben.
Es bedurfte deshalb engagierter Männer und hartnäckiger Verhandlungen, um einen passenden Schlüssel zur Öffnung dieser „Einsperrung“ zu finden. Einer der wichtigsten Akteure bei der schließlichen Erreichung des Zollvertrags, der den wirtschaftlichen Anschluss des Walsertals an Deutschland garantierte, ohne seine territoriale Bindung an Österreich in Frage zu stellen, war der langjährige Gemeindevorsteher Johann Michael Gedeon Fritz. Zusammen mit seinem Bruder Dr. Tiburtius Fritz in Wien und dem aus München stammenden Wahlwalser Hippolyt von Klenze, die in den Ministerien in Wien bzw. München jahrelang antichambrierten, gelang schließlich das Vertragswerk, das die weitere Zukunft der Gemeinde Mittelberg vorteilhaft bestimmte.
Geboren als zweiter Sohn des gleichnamigen Vorstehers und der Anna Walburga Kessler wurde Fritz früh mit öffentlichen Angelegenheiten vertraut. Mit 18 besuchte er den Präparandenkurs (Lehrerausbildung) in Innsbruck und unterrichtete anschließend in Bizau und dann im heimischen Mittelberg. 1857 heiratete er die Witwe Katharina Müller. Sie hatte einige Jahre zuvor ebenfalls einen Lehrer aus der Fritz-Sippe geehelicht, der aber wenige Wochen nach der Hochzeit bei Waldarbeiten tödlich verunglückt war. Der Bauernhof, den die Braut in die Ehe einbrachte, wurde zur Basis, von der aus Gedeon Fritz in „dreißigjähriger Betriebsamkeit“ (so der Walser Chronist) weitere Weiden, Alpen und Bauerngüter erwarb. Bereits 1860 erweiterte der zum Bauern gewordene Lehrer sein Betätigungsfeld, indem er einen Käsehandel begann. Der Käseproduktion, deren Verbesserung und dem Verkauf galten seine intensiven Anstrengungen. Hatte ihm sein Ziegelkäse an der landwirtschaftlichen Ausstellung im Wien im Jahr 1873 noch eine Bronzemedaille eingebracht, so wurde sein Produkt neun Jahre später in Triest mit einer Goldenen ausgezeichnet. Damit war aber der Ehrgeiz zur Verbesserung seiner Käse noch nicht gestillt. 1884 kaufte er einen weiteren Bauernhof, errichtete hier einen repräsentativen Neubau, in dessen Keller er eine moderne Molkerei installierte. Berater war hier wieder der bereits genannte Hippolyt von Klenze, der vor seiner Niederlassung in Mittelberg Chemie studiert und ein Handbuch zur Molkereitechnik verfasst hatte.
Auch die Viehzucht war Gedeon Fritz ein wesentliches Anliegen. Die landwirtschaftlichen Theoretiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertraten die Ansicht, dass reinrassiges Vieh gesund und wohlgestaltet sei. Die einfachen Bauern aber orientierten sich an der Milchleistung und nicht am Aussehen ihrer Kühe und wollten sich auch nicht an der Anschaffung von teuren Zuchtstieren finanziell beteiligen. Der Vorsteher und Großbauer Fritz aber predigte die moderne Viehzucht, forderte Vernunft und Eintracht und appellierte immer wieder an die „Halsstarrigen“, sich nicht selbst zu schaden. Die Vorkämpfer für den landwirtschaftlichen Fortschritt sammelten sich im sogenannten Ortsverein, den Tiburtius Fritz, der Bruder des Vorstehers, 1871 gegründet hatte. Der Verein sollte sich allen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fragen des Tales widmen und neben der Fortbildung auch ganz praktische Angelegenheiten wie den Verkauf der eigenen Produkte und den Einkauf von Konsumgütern genossenschaftlich regeln. Der Ortsverein Mittelberg bildete in seinem umfassenden Anspruch ein Unikum in ganz Vorarlberg. Es waren auch engagierte Mitglieder dieses Vereins, die sich – animiert vom Vorsteher – der Mühe unterzogen, die gesamte Volkswirtschaft des Kleinwalsertals statistisch zu erfassen. Die so erhobenen Befunde bildeten stichhaltige Argumentationshilfen bei den Zollvertragsverhandlungen. Langjähriger Obmann des Vereins war Gedeons älterer Bruder Ferdinand Fritz, der als Stickereifergger Arbeit und damit Zuverdienst ins Tal brachte. Ein Tiroler Landwirtschaftsexperte, der 1879 das Tal bereiste, klagte allerdings über diese schlecht bezahlte Frauenarbeit „für Schweizer Firmen, die als Schmarotzer die Walser wahrhaft aussaugen.“
1864 wurde Gedeon Fritz erstmals zum Vorsteher der Gemeinde Mittelberg gewählt. Zu dieser Zeit war er noch ganz Bauer, der mit Familie im Sommer die Spitalsalpe bewirtschaftete. Hier brachte Katharina Fritz ohne Hebamme ihr sechstes und letztes Kind zur Welt, das die Geburt nur um wenige Stunden überlebte.
Mit zwei Unterbrechungen fungierte Gedeon Fritz bis zu seinem Tod insgesamt 20 Jahre als Vorsteher und durch Jahrzehnte hindurch auch als Kirchenpfleger. Er war nämlich ein sehr glaubensfester Mann, strikt konservativ in seinen Wertvorstellungen, in kommunalen Belangen und im privaten Wirtschaften aber aufgeschlossen gegenüber Neuem. Er sei ein „begeisterter Anhänger des hl. Stuhls“ gewesen, weshalb er 1888 eine Pilgerreise nach Rom unternommen habe. Dass unter seiner Amtsführung für öffentliche Zucht und Ordnung gesorgt wurde, musste nicht nur sein jüngerer Bruder David Fritz erfahren, der als Wirt für die „Abhaltung einer Tanzmusik“ bestraft wurde sondern auch der Dichter Franz Michael Felder, der mit einer älteren Verwandten über das Starzeljoch nach Mittelberg gekommen war, weil er sich beim dortigen Tierarzt über eine eventuelle Vetrinärausbildung erkundigen wollte. Da aber seine Begleiterin des Bettels verdächtigt wurde, eskortierte der Gemeindediener die beiden ans Talende und beobachtete ihren Abgang Richtung Joch.
Als Bürgermeister, der das öffentliche Amt ohne Eigennutz ausübte, erwarb er sich im Laufe der Jahre hohes Ansehen bei seinen Mitbürger/innen und bei den übergeordneten Behörden. Sein Wort galt und hatte Gewicht. Er habe, so wurde ihm nachgesagt, „seine bedeutenden Kenntnisse für das Wohl der Gemeinde kräftigst“ eingesetzt und nie auf die Armen vergessen.
1884 wurden seine Verdienste um die Gemeinde vom Kaiser mit dem „Goldenen Verdienstkreuz“ gewürdigt. Anlässlich dieser Ehrung wurde ein Festmahl mit Musik und einer Lobrede des Pfarrers abgehalten, bei dem der „feurige Rebensaft die Festgäste gar bald in nicht nur festliche, sondern auch in frohe Stimmung gebracht“ habe. So berichtete jedenfalls der Walser Korrespondent des Volksblattes. Die Krönung seines öffentlichen Engagements aber bildete der lang ersehnte und mit allem Nachdruck betriebene Zollanschluss. Als aus Wien signalisiert wurde, dass im Sommer 1890 endlich auch die österreichische Regierung dem bayrischen Vertragsentwurf zustimmen könnte, fuhr der Vorsteher persönlich in die Reichshauptstadt, um mit seiner amtlichen Autorität das Vertragswerk mit den Ministerialbeamten zu finalisieren.
Politiker auf lokaler und regionaler Ebene wurden damals nur mit Aufwandspauschalen entlohnt. Umso überraschter war Gedeon Fritz, als sein Bruder, der als Rechtsanwalt zehn Jahre lang in Ministerien vorgesprochen und zahlreiche Eingaben für die Heimatgemeinde gemacht hatte, nach Vertragsabschluss eine saftige Rechnung präsentierte. Um den familiären Frieden und den großen Festakt, mit dem das Vertragswerk gefeiert wurde, nicht zu stören, bezahlte die Gemeinde die Rechnung. Die zukünftigen Vorteile waren das Geld wert. Der Vorsteher selbst, der anlässlich dieses Festakts zum Ehrenbürger ernannt wurde, hatte seine Mission erfüllt. Er verstarb ein gutes halbes Jahr nach dem Inkrafttreten des Zollanschlusses. „Möge Gott die Familie trösten, dem lieben Verstorbenen den Himmel, und der werten Gemeinde mehrere solche Männer schenken“, resümierte der Pfarrer in seiner Totenrede.

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