Und die Welt ist Wort geworden

Neulich in Bärwalde
Jens Dittmar, Verlag Edition Königstuhl, 300 Seiten
Jens Dittmar betreibt anschauliche Geschichtsschreibung.
Roman Die Belesenheit, die gründliche Bildung und die Klugheit des Autors ziehen sich als roter Faden durch die Besprechungen, die Jens Dittmars jüngstes Werk erfahren hat. Natürlich haben sie alle recht, sehr recht sogar. Zum Glück für seine Leserschaft aber ist es mit Belesenheit, Bildung und Klugheit bei Jens Dittmar nicht getan. Es kommt noch mindestens ein weiterer Zug dazu, der seine Bücher allemal zum wahren Lesevergnügen werden lässt: seine Leidenschaft fürs Schreiben, für die Sprache und die Literatur. Dittmar hat sich in die glückliche Lage gebracht, ganz aus sich heraus zu schreiben und dabei seine Leserinnen nicht zu vergessen, seine Leser auch nicht, aber das versteht sich von selbst, wenn man´s versteht.
„Neulich in Bärwalde“ ist ein Roman im allerbesten Sinn. Das bedeutet mehrerlei. Erstens wird eine Geschichte erzählt, eine richtige Geschichte, mit Orten und Personen, beides weit verstreut in Raum und Zeit, nämlich über die ganze Welt und etliche Generationen. Und was für Orte: chinesische Kolonien, norwegische Gefangenenlager, die Weltmeere. Und was für Personen: Staatsminister, Marineoffiziere, kryptofaschistische Aktivisten und dann ein Spätling mit Hang zum Erzählen. Zweitens die Sprache. Da werden mit klaren, eingängigen, schnörkel- und makellosen Sätzen Tatsachen geschaffen und Welten beschrieben, egal ob klein oder groß, eng oder weit. Was Dittmar nicht hoch genug anzurechnen ist: Hier gibt es keine Spur von Pose, von Autorengetue, -gehabe. Es ist, was es ist, und das ist viel. Über den nach 300 Jahren Familien- und Menschheits-, Kriegs- und Sozialgeschichte Nachgeborenen, den es ins „südliche Liechtenstein“ (das bekanntlich nicht allzu weit vom nördlichen entfernt ist; oder doch?) verschlagen hat, heißt es nach dem mit „akzeptabler Durchschnittsnote“ geschafften Abitur: „Zunächst widmete er sich der Kunst und schnupperte bei einem Steinmetz. Als ihm das zu beschwerlich wurde, lernte er schweißen.“ Was dazu führt, dass seine Mutter eines Tages beim Rasenmähen über eines seiner Kunstwerke stolpert und „blutüberströmt zum Arzt musste“. Das ist nicht nur lakonisch, das ist in extrem spannenden Bögen erzählt, jedes Wort an seinem Platz und vor allem: keines zu viel!
Dass „notgeile Jungfrauen“ ebenso ihren (Kurz-)Auftritt haben wie „quicke Säuglinge“ und „die tobende Nordsee“ veranschaulicht bereits den phänomenalen Erfahrungshorizont des Autors und die Bandbreite der in „Neulich in Bärwalde“ gipfelnden Geschichten. Zudem ist dem Buch als sehr sympathische Geste ein feiner Bildteil beigegeben, mit der Reproduktion von Zeichnungen, Gemälden und echten Fotografien. Darunter zwei von Niels, der den Rezensenten an den Autor Jens Dittmar (geb. 1950) erinnert. Auf beiden Fotografien liest Niels. Einmal als kurzbehoster Bub „an seinem Lieblingsplatz am Fenster, Micky Maus lesend (1959)“; einmal im Lesesaal der Zentralbibliothek Zürich (1973), eher nicht Micky Maus lesend. „Neulich in Bärwalde“ ist nicht zuletzt ein buchgewordenes Plädoyer fürs Lesen: für das Lesen als Kulturtechnik im weitesten und besten Sinn, das durchaus mit Micky Maus beginnen darf, wenn es bei Werken wie „Neulich in Bärwalde“ endet! PEN
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