Circuli mirabiles oder die hohe Kunst der Balance

Kultur / 06.04.2023 • 18:14 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
Edgar Leissing platziert seine Collagen, Farbkreisfeuerwerke, Zeitungsausschnitte und Hintergründe wie bei einer Spielanordnung.  Thomas Schiretz
Edgar Leissing platziert seine Collagen, Farbkreisfeuerwerke, Zeitungsausschnitte und Hintergründe wie bei einer Spielanordnung.  Thomas Schiretz

Edgar Leissing präsentiert seine neuesten Werke in der Villa Claudia in Feldkirch.

FELDKIRCH 66 Arbeiten präsentiert Edgar Leissing, eines der Gründungsmitglieder von KunstVorarlberg, in den Räumlichkeiten der Villa Claudia. Trotz der enormen Fülle kommt nie ein Gefühl der Schwere oder der Unübersichtlichkeit auf – sie sind in Balance gehängt. Die einzelnen Arbeiten korrespondieren nicht nur untereinander, sie ergänzen sich.

Der Schweizer Kunsthistoriker Beat Wyss spricht von der Rückverzauberung entzauberter Dinge. Die entzauberten Dinge, das ist jenes zurückgelassene Zerschnippelte, farbiges Papier, für das Edgar Leissings Studenten der Kunstschule Liechtenstein keine Verwendung mehr findet und welches somit im Papierkorb landet.

Das Weggeworfene, das Verkannte, das scheinbar unbrauchbar Gewordene, die Makulatur, ist auch zu Leissings Faible geworden, neben seinem Spleen für Zeitungsausschnitte. Diese Makulatur, dieses Weggeworfene wird von Edgar Leissing bei der Wiederverwendung, bei der Rückverzauberung nahezu nicht manipuliert, es findet seine Verwendung in dem Zustand, in dem es sich befand, als es für andere unbrauchbar geworden ist. So wird aus Abfall Zufall und der Zufall wird zur Balance, ein Gleichgewicht aus Farben und Formen. Leissings künstlerische Entwicklung ist ohne den Zufall nicht nachvollziehbar.

Wie schreibt Arno Geiger so treffend in seinem neuesten Roman „Das glückliche Geheimnis“: „Wer dem Zufall keine Zutrittsmöglichkeiten zu seinem Leben gewährt, an dem geht vieles vorbei, der wird immer das Passende suchen – und am Ende landet er in einer Blase.“

Gekonntes Jonglieren

Vielfach gewährt Edgar Leissing dem Zufall Zutrittsmöglichkeiten. Einer Spielanordnung gleich platziert er seine Collagen, Farbkreisfeuerwerke, Zeitungsausschnitte und Hintergründe, erzeugt dadurch eine spannungsgeladene Gestaltung und bewirkt deren Lebendigkeit; er reizt aus, was sichtbar ist, aber auch was scheinbar verborgen bleibt, um die Fantasie beim Betrachter anzuregen. So projizieren diese Arbeiten zwischen Gegenständlichkeit und abstrakter Konstruktion perzeptive Zwischenräume, die ständig neu visualisiert und erschlossen werden müssen.

Leissing bringt das Unvereinbare zusammen und spielt gern das Banale gegen das Außergewöhnliche aus, das Entzauberte mit dem Verzauberten. Seine Arbeiten evozieren komplexe Gefüge und handeln aber gleichzeitig von der Beliebigkeit, von unbekannten Schönen, von Getier und Masken, von Metamorphosen. Sein Vorgehen erinnert an das von Walter Benjamin beschriebene mimetische Vermögen, die menschliche Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu erkennen und auch zu erzeugen.

Der Spannungszustand des fast wie, aber eben doch nicht, das gekonnte Jonglieren zwischen sinnlicher Körperlichkeit und toter Dinglichkeit bestimmt die Kunst von Edgar Leissing.

Der französische Schriftsteller, Maler und Grafiker Francis Picabia sagte einmal, dass „der Kopf deshalb rund ist, damit das Denken die Richtung ändern kann“. In Anlehnung daran und an Edgar Leissings Collage AlltagsritualBalanceakt #65 und ähnlich dadaistisch möchte man sagen: Der Kopf des Menschen ist deshalb rund, damit er in seiner Balance bleibt. Aber schließlich hatten die Menschen zu Urzeiten, dem Mythos zufolge, kugelförmige Rümpfe. THS

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