„Beim Lesen Phänomene beobachten“

Mathias Müller erhielt den Literaturpreis des Landes Vorarlberg 2023.
Bregenz „Die Bühne wächst“ nennt der gebürtige Bludenzer Mathias Müller seinen experimentellen Text, einer von 46 Einreichungen für den Literaturpreis des Landes Vorarlberg 2023. „Ein kraftvoller, gegen jede Hierarchie gerichteter Text, der Sprache und Klang zu seinen Mitteln erhebt“, urteilt die Jury und verleiht dem studierten Literaturwissenschaftler die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung.
Neben dem mit 10.000 Euro dotierten, biennal vergebenen Preis wurden Manon Hopf, Nadine Kegele und Ingrid Maria Kloser mit Arbeitsstipendien zu je 1500 Euro ausgezeichnet. Hopf konnte mit einem der wenigen Lyrik-Beiträge unter den Einreichungen punkten, denn die Jury war sich einig, dass „gebe dir mein gesicht. verwandlungen“ ein ausgezeichneter, sprachreflexiver und sprachspielerischer Text sei. Bereits der erste Satz von Nadine Kegeles Text, ein Auszug aus dem im Entstehen begriffenen Roman „Unter Verwendung guter Gedanken“, hat die Jury in den Bann gezogen. Die „im besten Sinne versöhnliche Geschichte, fern aller Sozialromantik und im Hier und Jetzt“ fächert, ausgehend von der Begegnung zweier Schwestern beim Notar nach dem Tod des Vaters, eine Familiengeschichte auf, deren Figuren sofort vertraut erscheinen.
„Der eine kann das Leben des anderen niemals fühlen, niemals“, lautet für die Jury einer der Schlüsselsätze in der Erzählung „Zeichen“ von Ingrid Maria Kloser. Der Satz verweist auf die Endgültigkeit einer Entscheidung, denn in ihrer Textprobe schildert die Autorin, die nach 2021 erneut mit einem Arbeitsstipendium bedacht wird, die berührende Geschichte und die Gedanken einer 93-jährigen ehemaligen Lehrerin und Schmerzpatientin, die sich entschlossen hat, die Möglichkeit aktiver Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen.
Die festliche Verleihung fand gestern, Montag, 24. April im Montfortsaal des Landhauses in Bregenz statt. Wir sprachen mit dem in Wien lebenden Autor und Literaturpreisträger 2023 Mathias Müller.
2019 war es das Arbeitsstipendium des Landes Vorarlberg, jetzt der Literaturpreis: Wie sehr hat Sie diese Auszeichnung überrascht?
Müller Vor allem war es eine schöne Überraschung. Und ich freue mich sehr über die Auszeichnung.
Welche Möglichkeiten ergaben sich durch das Arbeitsstipendium und werden sich durch den Preis noch eröffnen?
Müller Meine erste Lesung in Vorarlberg hat sich überhaupt erst 2019 nach dem Arbeitsstipendium ergeben. Ich möchte in diesem Zusammenhang insbesondere Frauke Kühn danken, die mich seitdem immer wieder eingeladen hat, zum Beispiel für eine Videolesung in das zukünftige Literaturhaus in Hohenems, und zu dem Podcast „Radetzkystrasse 1“. Der Preis wird hoffentlich die Produktion des Hörspieles erleichtern und vielleicht auch die Möglichkeit eröffnen, es in einer Radiosendung unterzubringen.
Den Preis erhielten Sie für „Die Bühne wächst“. Wie geht es jetzt mit diesem experimentellen Text weiter?
Müller Seit Anfang des Jahres bin ich Teil von Forum Text des Dramaforums, ein Programm, das Autoren und Autorinnen beim Schreiben von Theaterstücken unterstützt. Im Rahmen dieses Programms arbeite ich an dem Text weiter und werde, denke ich, nach der Hörspielfassung auch eine Theaterfassung schreiben.
Ihre erste Einzelveröffentlichung ist das Buch mit dem Titel „Birnengasse“, das 2021 beim Sonderzahl Verlag erschienen ist. Arbeiten Sie zurzeit an einem neuen Buch?
Müller Längere Zeit habe ich versucht ein Langgedicht zu schreiben, viel von diesem Material ist aber in „Die Bühne wächst“ geflossen – als hätte der Text nach einer Stimme gesucht, die ihn spricht. Jetzt arbeite ich, neben dem Hörspiel, an etwas, das von Weitem fast mit einem Roman zu verwechseln ist. Aber da lasse ich mich gerne noch überraschen. Ich bin auch sehr fasziniert von Oulipo oder den Texten von Inger Christensen, die sich an strenge Regeln wie die Fibonacci-Folge halten oder Permutation wie in einer musikalischen Komposition folgen.
Warum ist das Schreiben für Sie ein Bedürfnis? Wie sind Sie überhaupt zum Schreiben gekommen?
Müller Ich denke, dass mein Schreiben viel mit Übersetzen zu tun hat; übersetzen verstanden als ein verzögerndes Lesen, das auf die Suche nach Phänomenen in der Sprache geht. So ist es möglich, einen Text zu lesen und sich nicht die Frage zu stellen „Worum geht es?“ im Sinne von „Was ist die Handlung dieses Textes“, sondern „Was macht dieser Text?“ oder „Was passiert hier überhaupt?“. Lesen also als etwas, das produziert, vielleicht Sinn oder Unsinn, oder die Sinne schärft dafür, was zwischen den Wörtern vor sich geht. Und schreiben in diesem Zusammenhang, ist vielleicht weiterlesen oder auch antworten, ein Gespräch mit dem Texten weiterfürhen.
Wer sind Ihre literarischen Vorbilder? Was sind Ihre literarischen Träume?
Müller Eine der wichtigsten Autorinnen, die einen großen Einfluss auf mein Schreiben hatten, ist Ilse Aichinger. Ich denke, dass in ihren Texten schon Übersetzung vor sich geht. Zum Beispiel beginnt in dem Buch Schlechte Wörter der Text „Bergung“ so: „Left, links, links, lassen.“ Beim ersten Lesen ist es sehr leicht, darüber zu stolpern und zu lesen „Left links liegen lassen“. Dann ist plötzlich das Wort „left“ übersetzt in die Richtung, in „links“, aber auch in die zweite Bedeutung des Wortes, „zurückgelassen“ oder eben „links liegen gelassen“. Und es gibt viele solche Stellen in ihrem Werk, auch ohne dass ein englisches Wort dabei steht, in denen sich solche Phänomene beobachten lassen. Auch Übersetzungen von Deutsch nach Deutsch sind möglich. Dass ich überhaupt Hörspiele schreibe, ist sicherlich auch auf den Band Auckland zurückzuführen, in dem die Hörspiele von Ilse Aichinger gesammelt sind. Vor allem das titelgebenden Hörspiel „Auckland“ wurde in den ersten Jahren des Ilse-Aichinger-Hauses immer wieder diskutiert, und unsere erste Veranstaltung hier war „Wie nach Auckland“. vn-cro, ama


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