Käse und andere Köstlichkeiten

Für die Vorarlberger Landwirtschaft, die sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Gedeih und Verderb der Milchwirtschaft verschrieben hatte, waren tüchtige Käseverkäufer so notwendig wie gesunde Kühe. Dies umso mehr, da sich das Käsegeschäft seit 1870 strukturell zu verändern begann. An die Stelle der bisherigen Milchkäufer, die als quasi Generalunternehmer den Bauern für einen fixen Preis die Milch abnahmen, verwerteten und die Produkte auch verkauften, traten nun in vielen Orten Sennereigenossenschaften, die auf eigenes Risiko wirtschafteten, an den wichtigsten Absatzmärkten aber Verkäufer benötigten. Josef Anton Ratz (1818-1867) aus Bezau war der erste traditionelle „Käsgraf“, der seine Verkaufskanäle auch dem Käsehandlungsverein, der 1868 von Franz Michael Felder und Josef Feuerstein gegründet worden war, öffnete. Bereits neun Jahre zuvor hatte der Käseexport durch den Verlust der Lombardei das Hauptabsatzgebiet weitgehend verloren. Nun wurde Wien zum neuen Stützpunkt: Hier wurde nicht nur der Absatz über Detaillisten forciert, von hier aus wurden nun auch die Märkte in den östlichen Kronländern bearbeitet. Sowohl die Firma des Gallus Moosbrugger als auch jene der Gebrüder Ratz schickten in den 1860er-Jahren Söhne nach Wien zur Gründung von Niederlassungen. Beide Firmen brachten auch das Personal zu guten Teilen mit aus dem Bregenzerwald, darunter auch junge Frauen als Verkäuferinnen im Detailhandel. Eine solche war Margarethe Ratz (1843–1910), Tochter des Bezauer Käsehändlers Johann Jakob Ratz. Auch zwei ihrer Geschwister führten eigene Käsehandlungen in Wien. Margarethe Ratz heiratete 1873 in Wien den aus Andelsbuch stammenden, ebenfalls seit 1870 im Wiener Käsegeschäft tätigen Kaspar Bär. Als dieser nur zwei Jahre später verstarb, ehelichte Margarethe Bär 1877 den im Geschäft angestellten Johann Michael Rüscher, der aus Au zugezogen war und sich offenbar als tüchtig erwiesen hatte.
Vor seiner Übersiedlung nach Wien im Jahr 1871 hatte Rüscher den Lehrerkurs in Bregenz absolviert und einige Jahre in Au unterrichtet, im Handel aber bessere Aufstiegschancen gesehen. Wie damals üblich, übernahm Rüscher als Mann die Geschäftsführung im Handelsbetrieb seiner Frau. Erst nach dem gemeinsamen Kauf eines stattlichen Hauses am Wiener Gürtel, Ecke Märzstraße, wurde Rüscher auch als Geschäftsinhaber ins Handelsregister eingetragen. Zu dieser Zeit war der vormalige Käseverkauf Schritt für Schritt zu einem Delikatessenladen erweitert worden. Vorarlberger Käse, der immer noch einen wesentlichen Bestandteil des Angebotes ausmachte, wurde hauptsächlich bei Peter Anton Meusburger, ebenfalls aus Bezau stammend, eingekauft, der in Wien ein ausgedehntes Käselager unterhielt. Der Transport von Vorarlberger Käse in den Donauraum erreichte in den 1870er-Jahren ein solches Ausmaß, dass die bei der Vorarlberger Bahn verladenen Transporte sowohl bei den Privat- als auch bei den Staatsbahnen mit einem „Ausnahme-Tarif“ über Lindau bis Linz, Wien und Budapest geliefert wurden.
Zur Verbindung der einzelnen Kopfbahnhöfe wurde auf Druck des Militärs in den 1890er-Jahren die Wiener Gürtelbahn errichtet, aus der dann nach Übernahme durch die Stadt die so genannte Stadtbahn, heute U6, wurde. Damit lag das Haus Märzstraße 1 direkt an einem neuen Verkehrsknotenpunkt. Der Platz mit der größten Frequenz an Pendlern und Flaneuren aber wurde die Kreuzung Gürtel/Mariahilferstraße mit dem gegenüber liegenden Westbahnhof. Hier, in der Mariahilferstraße 117, eröffnete Johann Michael Rüscher 1890 ein zweites Delikatessengeschäft, in welchem noch erlesenere Feinkostprodukte angeboten wurden. Dazu zählten Südfrüchte in Konserven, ungarische und italienische Salami, französische Weichkäse, exotische Tee- und Kaffeesorten, Schokoladen, Gewürze, Säfte und vor allem Liköre, Cognac und Champagner. Eine wohlhabende bürgerliche Schicht, die sich in den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hatte, suchte auch im täglichen Konsumverhalten den Anschluss an internationale Standards des Mondänen. Um 1890 kaufte Rüscher ein weiteres Haus, das unmittelbar an das Hauptgeschäft in der Märzstraße anschloss.
Dass aber trotz der gestiegenen Nachfrage die zahlreichen Delikatessengeschäfte, die im Falle der Vorarlberger aus Käsehandlungen hervorgegangen waren, keine Selbstläufer waren, zeigen Beispiele des Scheiterns. So konnte sich der bereits genannte Peter Anton Meusburger, der vis-à-vis von Rüscher in der Mariahilferstraße ein Delikatessengeschäft unterhielt, nur durch einen Ausgleich vor dem Ruin retten. Noch schlechter erging es einem Bruder von Frau Rüscher, der zusammen mit seiner Gattin wegen „schuldbarer Crida“ zu einer mehrwöchigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
Für einen Status, wie ihn sich Michael Rüscher geschaffen hatte, benötigte es kaufmännisches Gespür, kalkulierendes Handeln und gutes Personal. Letzteres rekrutierte Rüscher im Bregenzerwald. So war etwa Eduard Muxel (1867–1944) aus Au fast 40 Jahre hindurch sein „treuer Geschäftsdiener“, wie Rüscher mit Dankbarkeit in seinem Testament festhielt. Die Schreibarbeiten im Kontor erledigte seit 1900 Friederike Ratz, eine in Wien geborene Nichte von Frau Rüscher. Mit Pius Manser war eine weitere Hilfskraft aus der alten Heimat beschäftigt. Rüschers kaufmännische Seriosität wurde öffentlich gewürdigt, indem er zum Schätzungskommissär des k.k. Handelsgerichts bestellt wurde.
In knapp 20 Jahren rühriger Geschäftigkeit hatte Rüscher seiner Firma eine stabile Basis geschaffen und mit Josef Zawodsky einen tüchtigen Geschäftsführer aufgebaut, der am Gewinn beteiligt wurde. Damit konnte die Familie zunehmend Zeit außerhalb von Wien verbringen. 1920 kam Rüschers älteste Enkelin aus Au ins Geschäft Märzstraße als Verkäuferin und heiratete ein Jahr später den Geschäftsführer.
Im Jahr 1888 tätigten die Eheleute Rüscher ein beachtliches und viel beachtetes Investment im Bregenzerwald. Sie erwarben und renovierten den Gasthof Bären in Mellau. Dass sie willkommen waren, davon zeugte eine gereimte Begrüßung an der Hoteltüre:
„Freundlich willkommen beim Einzuge hier!
Glückliche Stunden verleihe Gott Dir!
Freilich, nicht Wiener Pracht bietet das Dörfchen:
Einfach und schlicht die Bewohner wie’s Örtchen.“
Bis zum Verkauf des Bären im Jahr 1897 verbrachte die Familie Rüscher nun die Sommer in Mellau. Der neue Gastwirt begann sofort mit Werbemaßnahmen für seinen Gasthof mit Stahlbad. So gründete er mit einigen Interessierten einen Verschönerungsverein und gewann Dornbirner Fabrikanten als unterstützende Mitglieder, die sich auch für eine Verbesserung der Achrain-Straße starkmachten. Zudem engagierte er sich für den Bau der Wälderbahn und kaufte Anteilscheine. Das neue Verkehrsmittel sollte vermehrt Gäste in den Wald bringen. Er trat dem Vorarlberger Landesmuseumsverein bei und ließ sich in den Festausschuss für die Felder-Feier von 1889 in Au wählen. Die Bekanntschaft mit einheimischen Honoratioren diente der Akquisition von Hotelgästen.
Die Rückfahrt der Familie Rüscher nach Wien Ende September 1895 ging durch die österreichische Presse: Über Lindau führte die Reise nach München, und beim nächsten Aufenthalt in Hallein bemerkte Rüscher, dass aus seiner Ledertasche Sparbücher, Anteilscheine und Lose im Wert von 18.000 Gulden (ca. 200.000 Euro) fehlten. Eine solche Verlustsumme war ungewöhnlich und deshalb berichtenswert. Wie viel davon tatsächlich verloren war, berichteten die Zeitungen nicht mehr. Was der Delikatessenhändler aber in seinen knapp 50 Wien-Jahren tatsächlich verdient hatte, davon legt das erhaltene Testament genaues Zeugnis ab. Doch davon später.
Im Privatleben hatte die Familie Rüscher weniger Glück als im Geschäft. Margarethe Ratz-Rüscher schenkte drei Töchtern das Leben. Die erste Tochter, noch aus der Ehe mit Kaspar Bär, heiratete den aus Bizau stammenden Kunstmaler Josef Reich. Sie starb 1901 sechsundzwanzigjährig nach der Geburt ihres ersten Kindes. Und auch die beiden Rüscher-Töchter starben vor den Eltern: Grete war 24, als sie 1907 in Bezau starb, und Angelika verschied 1909 nach der siebten Geburt, nachdem sie neun Jahre zuvor den Auer Bauern und Organisten Michael Metzler geheiratet hatte.
Zu dieser Zeit wohnten die Eltern fast ganzjährig in Gries bei Bozen, weil sich Margarethe Rüscher-Ratz hier eine Linderung ihrer Tuberkulose-Erkrankung erhoffte. Aber auch das gute Südtiroler Klima konnte ihren Tod im Jahr 1910 nicht verhindern. Ab nun verbrachte der Witwer die meiste Zeit in Bezau und kaufte sich in den so genannten Postneubau ein. Der Bezauer Pfarrkirche spendierte er im Gedenken an seine Frau Kreuzwegstationen, die zugleich einen lukrativen Auftrag für seinen Stiefschwiegersohn Josef Reich bedeuteten.
Als der umtriebige Delikatessenhändler 1922 in Bezau starb, hinterließ er ein umfangreiches Testament, in welchem die sieben Halbwaisen seiner Tochter Angelika bedacht wurden. Das Jahr 1922 war allerdings das Jahr der höchsten Inflation. Die zahlreichen Anleihen, das Geld der Sparbücher und die umfangreichen Kriegsanleihen, die der treue Patriot noch bis 1917 in Höhe von 23.000 Kronen (damals noch ca. 115.000 €) gezeichnet hatte, waren nahezu wertlos geworden. Seine Todesanzeige im Vorarlberger Volksblatt im November 1922 kostete 150.000 Kronen. Die private Bozen-Meraner-Bahn, in die Rüscher viel Geld investiert hatte, wurde 1918 ohne Entschädigung von der italienischen Staatsbahn übernommen. Den beiden ältesten Enkeln, die nach dem Krieg ins Wiener Geschäft gekommen waren, blieben immerhin die beiden Häuser, in denen sie in späteren Jahren noch Käse- und Lebensmittelläden führten. Den fünf jüngeren Enkeln blieben hohe, aber wertlose Geldsummen und ein Haus in Au. Die langjährigen Wiener Angestellten wurden mit Prozentanteilen am Jahresgewinn der Wiener Geschäfte im Todesjahr des Patrons bedacht. Mit dem Untergang des Habsburgerreiches ging auch das enorme Privatvermögen der Familie Rüscher größtenteils verloren.

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