Bücher für Strand, Berg und Stadt

Kultur / 13.07.2023 • 13:35 Uhr / 27 Minuten Lesezeit
Lesen bereitet Vergnügen immer und überall, nur das Buch muss gut sein.  <span class="copyright">Stefan Sauer dpa/lmv/lno +++(c) dpa - Bildfunk</span>
Lesen bereitet Vergnügen immer und überall, nur das Buch muss gut sein. Stefan Sauer dpa/lmv/lno +++(c) dpa - Bildfunk

Lesetipps für den Urlaub und laue Sommerabende von den Literaturexperten der Vorarlberger Nachrichten.

VN-Literaturexpertin Marion Hofer - CRO.  <span class="copyright">Lars Poeck </span>
VN-Literaturexpertin Marion Hofer - CRO. Lars Poeck
VN-Literaturexperte Martin G. Wanko - MW.  <span class="copyright">Christa Dietrich</span>
VN-Literaturexperte Martin G. Wanko - MW. Christa Dietrich

Istrien fernab vom billigen Badeurlaub

BALKAN-FLAIR Zur Jahrtausendwende war Istrien nicht mehr als die günstige, schnell erreichbare Region mit Balkan-Flair. Aber das Blatt hat sich gewendet. Georges Desrues schreibt über den Landstrich, besser gesagt, er berichtet darüber, ehrlich, aufrichtig und mit einer Freude am Alltäglichen. Man liest dieses Buch gerne, da es fernab halbseidener PR hier mit ungeschönten und zugleich sehr gut recherchierten Berichten und Empfehlungen punkten kann. Der Autor schreibt sehr ernsthaft über regionale Vorzüge und entführt uns weg vom Massentourismus ins Landesinnere. Georges Desrues hilft, den Schmelztiegel aus Italien, Slowenien und Kroatien über nationale Grenzen hinweg neu zu definieren. Trüffel, Olivenöl sowie Wein und Fisch sind das Bindeglied zu Landschaft und unglaublich freundlichen Menschen.

Georges Desrues "Istrien und Rijeka für Fortgeschrittene".
Georges Desrues "Istrien und Rijeka für Fortgeschrittene".

Natürlich stellt sich immer die Gewissensfrage: Kann man dieses Buch lesen, auch wenn man demnächst nicht nach Istrien unterwegs ist? Unter Kosmopoliten nüchtern beantwortet: Ja. Selten bringt ein Autor knapp das Wesentliche auf den Punkt. Das Prachtkapitel nennt sich „Schwarz-Weiß-Malerei“ und widmet sich der Trüffel. Aber hier geht es um mehr: Völkerverständnis, Nachhaltigkeit, beispielsgebend der Umgang mit Fisch, die kritische Sicht auf die Geschichte zwischen Habsburgerreich, Faschismus und Tito-Kommunismus. Allein die Annäherung an Rijeka ist großartig, die ehemalige 2020er-Kulturstadt, die keine Gäste einladen durfte, da in diesem Jahr Covid wütete. MW

Ein Blick hinter die Kulissen

Im Februar 2022 kündigte der Verlag Kiepenhauer & Witsch Benjamin von Stuckrad-Barres Neuerscheinung „Noch wach?“ an. Der Inhalt wurde verschwiegen – dennoch häuften sich die Gerüchte, der Roman könnte um den Springer-Verlag und die BILD-Zeitung drehen. So gesehen spannend, da Stuckrad-Barres Vergangenheit von Döpfner und Co. geprägt ist. „Noch wach?“ besteht aus zwei Erzählsträngen. Der eine handelt von einer bröckelnde Männerfreundschaft zwischen einem Autor und einem Besitzer eines Fernsehsenders, der im Roman „mein Freund“ genannt wird. Tatsächlich weist der Protagonist Ähnlichkeiten mit Stuckrad-Barre auf – der Freund könnte mit Mathias Döpfner, Vorstand des Springer-Verlags, verglichen werden. Nach ungefähr 100 Seiten entwickelt sich der zweite Erzählstrang, durch den der Roman an Dynamik gewinnt. Der Autor lernt Sophia, eine Praktikantin des Senders, in einer Sucht-Selbsthilfegruppe, kennen. Die zwei gründen eine eigene Selbsthilfegruppe an der nur sie teilnehmen und sich wöchentlich neben einem Kirsch-Bananensaft über ihre Probleme austauschen. Es entwickelt sich eine Freundschaft, Sophia öffnet sich Stück für Stück und erzählt, dass sie vom Chefredakteur des Senders über Instagram angeworben wurde und mit ihm eine Affäre hat.

Der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre während einer Lesung aus seinem neuen Buch "Noch wach?    <span class="copyright">APA/dpa/Hannes P Albert</span>
Der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre während einer Lesung aus seinem neuen Buch "Noch wach? APA/dpa/Hannes P Albert

Im Verlauf des Romans erfährt Sophia, dass der Chefredakteur mehrere Mitarbeiterinnen sexuell belästigt und seine Position gezielt einsetzt – Parallelen zum ehemaligen BILD-Chefredakteur Julian Reichelt werden immer offensichtlicher. Nun findet eine Wandlung in Sophias Denken statt: Die zuvor noch als normal betrachtete sexuelle Belästigung durch den Chefredakteur wird immer mehr als Problem identifiziert. Die Art, wie Benjamin von Stuckrad-Barre schreibt, ist Geschmackssache. Auf alle Fälle entzweit er die deutsche Bildungselite. „Noch wach?“ ist ein polarisierendes Werk deutscher Pop-Literatur. Die Stärken des Romans zeigen sich in der detailreichen Beschreibung der Machtverhältnisse, deren Missbrauch in der Medienlandschaft und der Echtheit der Denkweise und Dialoge seiner Figuren, besonders Sophias Charakter. Tatsächlich gibt „Noch wach?“ nichts Neues über die Causa Döpfner-Reichelt preis, allerdings erreicht der Autor etwas anderes: Er verschafft dem Thema #metoo Gehör, beschreibt, was toxische Machtgefüge in Individuen auslösen können und gibt einen Einblick hinter die Kulissen der Medienbranche. MW

Spritziger Migrationskrimi

„Die Guten und die Toten“, so nichtssagend der Titel ist, so gut ist dieser Berlin-Krimi von Kim Koplin. In einer flott erzählten Geschichte geht es um eine Leiche, die bei einem Staatssekretär im Kofferraum gefunden wird, der in einer betrunkenen Wahnsinnsfahrt ein Polizeiauto schrottete. Aber die Leiche im Kofferraum „gehört“ gar nicht zu ihm, sondern zum syrischen Flüchtling Saad. Saad, als Nachtschichtwächter in einem Parkhaus angestellt, musste sich zweier Typen einer Bande aus Marseille entledigen, von denen er einen im Kofferraum des Politikerschlittens zwischenparkte. Nur blöd, als sich herausstellt, dass es sich um einen Irrtum handelt und die zwei ermordeten Typen es tatsächlich auf den Staatssekretär abgesehen hatten. Der Staatssekretär aber hat es faustdick hinter den Ohren. Kim Koplin, eine Autorin, die im Pseudonym schreibt, baute ein unterhaltsames Setting, dazu positiver Migrationshintergrund mit einer anständigen Portion Emotionen. Kleine Unstimmigkeiten sollte man verzeihen, für zwei spannende Leseabende eine wirkliche Empfehlung. Bitte nicht das Innencover lesen, einmal mehr spoilert dies die ganze Story. Wozu? MW

Ein einziger flirrender Sommertag im Freibad und ein ganz großes Lesevergnügen. Autor Arno Frank packt die Badetasche.

In der tiefen Provinz, in einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz, hat sich ein Unglück ereignet. Max, der von Berlin wieder zurück in die Geburtsstadt ging, um die Spedition des Vaters zu übernehmen, kam mit dem Auto von der Straße ab und verunglückte tödlich. Dazu gab es auch noch vor einigen Jahren ein Unglück mit tödlichem Ausgang bei einem Sprung vom 7-Meter-Brett. Seitdem ist das Brett gesperrt. Zum Begräbnis von Max findet sich „die Klasse von 1984“ am Vortag im Freibad ein. Ob Renate, Kiontke oder Lennart, dorthin trägt jeder sein in den letzten Jahren angehäuftes Schicksal, wo schon am Morgen die Hitze steht und sich auch laut Autor Arno Frank so anfühlt: „Ein Hauch von Chlor, dazu die heftige Fäulnis von gemähtem Gras. Noch kein Frittenfett, der Kiosk öffnet erst um zehn Uhr.“ Jeder Leser erkennt hier sein eigenes Schwimmbad der Jugend wieder. Aber heute geht etwas zu Ende, das signalisiert uns der Autor in seinem aktuellen Roman „Seemann vom Siebener“ mit jeder Seite. Das hier ist echter Lesestoff, hier wird Zeile für Zeile aus allen Richtungen eine Geschichte erzählt. Grundsätzlich wäre es dramaturgisch sinnvoller gewesen, ein Unglück zu fokussieren, so kannibalisieren sich die beiden Tragödien etwas und der Leser weiß nicht immer, um welches Dilemma es sich momentan in den knappen Absätzen handelt. Der Autor nimmt sich seiner Charaktere vortrefflich an und führt sie durch den Roman, am ehesten zu vergleichen mit Stewart O’Nans Frühwerk „Engel im Schnee“, wo sich nun im Falle des deutschen Autors alles gekonnt in sommerlicher Schwüle auf ein Sommergewitter mit bösem Ausgang zuspitzt. MW

Auf Holmes und Watsons Spuren

„Wenn Worte töten" gibt es auch <br>als Hörbuch.
„Wenn Worte töten" gibt es auch
als Hörbuch.

„Wenn Worte töten“ nennt sich Anthony Horowitz neuer Kriminalroman rund um das fiktive Ermittler-Duo Daniel Hawthrone, ehemaliger Kriminalbeamter, jetzt Privatdetektiv, und seinem Assistenten, dem Autor Anthony Horowitz. Ja, richtig gelesen, Anthony Horowitz ist sowohl Autor des Romans als auch fiktiver Darsteller im Roman selbst, nur dass er auf literarischer Ebene als Hawthrones Anhängsel agiert, sich dessen Alltags annimmt und daraus Kriminalromane verfasst. Im dritten Band „Wenn Worte töten“ steht Horowitz kurz vor der Veröffentlichung seines neuen Kriminalromans, als er für ein Gespräch in den Buchverlag gebeten wird – Literaturfestivals stehen an und Hawthrone soll ihn begleiten, um den Roman anständig zu pushen. Das Verhältnis zwischen beiden Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, ist nicht besonders gut und rein geschäftlicher Natur, dennoch fliegen sie gemeinsam zu einem Literaturfest auf die nordfranzösische Insel Alderney. Spannend gestaltet sich die Auswahl der anderen Gäste: eine blinde Seherin, ein Koch, eine Dichterin, ein Historiker und eine Kinderbuchautorin. Finanzier der Veranstaltung ist ein gewisser Charles le Mesurier – ein unsympathischer, in die Glücksspiel-Szene involvierter Kerl, der den Bau umstrittener Hochspannungsleitungen befürwortet. Le Mesuriers Hintergedanke: Das Literaturfestival soll sein Ansehen auf der Insel verbessern, doch dazu kommt es nicht, denn nach der Abschlussfeier wird le Mesurier tot aufgefunden. Das System des Autors lässt sich auf folgende brauchbare Formel runterbrechen: Ein Ermittler-Duo, frei nach Holmes und Watson, ein unbeliebtes Opfer und eine Vielzahl an potenziellen Tätern und fertig ist der Stoff, aus dem klassische Spannungsromane gemacht werden. Das Buch profitiert von flotten Dialogen und hat witzige, wenn nicht zynische Elemente, wo sich der Autor auch nicht bierernst nimmt. Horowitz geht sehr strukturiert vor und liefert mit „Wenn Worte töten“ spannenden Lesestoff für ein gemütliches Krimi-Wochenende. MW

„Wenn Worte töten“ ist der Titel des neuen Kriminalromans von Anthony Horowitz. <span class="copyright">Valery HACHE / AFP</span>
„Wenn Worte töten“ ist der Titel des neuen Kriminalromans von Anthony Horowitz. Valery HACHE / AFP

Das Auge lässt sich täuschen, das Ohr nicht

„Frühe Pflanzung“ heißt das neue Buch der Schriftstellerin Anna Ospelt, das – gerade erst veröffentlicht – sogleich für den Literaturpreis der Europäischen Union nominiert wurde. Zwei Themen verwebt die 36-jährige Liechtensteinerin im Genre des Nature-Writing miteinander: Mutterschaft und Natur. „Ich mache das Wochenbett schreibend und lesend bewohnbar“, so die Autorin bei ihrer Lesung im Literaturhaus Liechtenstein. Und verrät: „Eigentlich wollte ich gar kein Buch machen.“ Das Schreiben sei vielmehr ein Anker gewesen, um in der Zeit der Veränderung bei sich selbst zu bleiben. „Ich schreibe links oder rechts je nach Stillposition“ geht es im Text weiter. Es seien die Worte still und stillen, die in Ospelt – wie sie sagt: „viel aufgemacht haben“. Gedachtes und Gesehenes im Wechsel zwischen Ich-Auflösung und Ich-Rückkehr wird notiert und gelassen. Bis sie zu einem fließenden Text werden, vergeht Zeit. Erst als E. – wie sie ihre Tochter im Buch nennt – ein Jahr alt war, ging die Autorin ihre Notizbücher durch und fand, dass spannende Elemente enthalten sind. Das sei dann nochmal eine ganz neue Textarbeit für sie gewesen, diesen Buchtext zu machen. Girlanden, hingen in der Wohnung, Sätze befestigt wie frisch gewaschene Wäsche, geschoben, immer wieder geschoben, bis es stimmig war. Es habe aber auch Abwägung gebraucht, aus diesem entstandenen Text ein Buch zu machen. „Ich habe mich dafür entschieden, die Sprache entscheiden zu lassen“, sagt die Vaduzerin, „einiges habe ich für mich behalten, anderes wiederum zu einem kunstvollen Text geformt, der dann eine Schutzhülle um dieses Persönliche herum bildet.“

Ospelt spielt auch im Buch mit den Sätzen und Absätzen, zieht auseinander, legt Gedankenstriche dazwischen und fordert Pausen ein. Zeit das Gelesene wirken zu lassen, es in seiner lyrisch-emotionalen Dichte und Tiefgang zu fühlen. Empathisches Luftschnappen geformt in Sätze – Stille – Sätze – Stille. Rhythmisch und wohlklingend. Dazwischen Bilder, die Eicheln als Erzählkapseln abbilden, Äpfel, die zu Kompott verarbeitet werden oder Kreuz-Stickereien auf Omas Leinentischdecke. Das ganze Buch ist durchwirkt von Bildern und Sprachbildern. Manche sind im Prozess entstanden, ein paar hat Ospelt hineingeholt. Die Form: ein Lyrik-Essay, das Versuchsartiges in sich trägt. Ein gelungener Versuch, der berührende Wortwelten öffnet und wie Blumenzwiebeln ihre Blütenblätter. Es liegt was in der Luft – etwas unverwechselbar Großartiges. CRO

Ein Trickbetrüger und Hochstapler als Protagonist

Bastian Kresser nimmt sich gerne historischen Stoffs an. Mit seinem vorangegangenen Roman „Klopfzeichen“ schrieb er einen feinsinnigen Roman über die berühmten Fox-Schwestern Leah, Kate und Maggie, die vorgaben, mit einer einfachen Täuschung eine Verbindung zu Toten aufbauen zu können. Dieses Mal ist es Victor Lustig, bekannt als der Mann, der den Eiffelturm verkaufte. Der 42-jährige Vorarlberger Schriftsteller macht den Trickbetrüger und Hochstapler zum Protagonisten seines neuen Buches.

Der 42-jährige Vorarlberger Schriftsteller Bastian Kresser.<span class="copyright">Stefan Wilfinger </span>
Der 42-jährige Vorarlberger Schriftsteller Bastian Kresser.Stefan Wilfinger 

„Als mir die Welt gehörte“ basiert auf wahren Begebenheiten, die seine Biografie charakterisieren. Lustig, im Jahr 1900 ein zehnjähriger Bub, schließt einen Vertrag mit sich selbst: Ich, Victor Lustig, schwöre hiermit, reich zu werden und genau das zu tun, was mir Freude macht. Dieses Schriftstück trägt er dann sein ganzes Leben mit sich herum. Doch reich wird man bekanntlich nicht mit ehrlicher Arbeit. Und dann wäre da noch der Adelstitel, der Rang und Namen mit einem Wort auf den Punkt bringt. In aller Bescheidenheit soll es der Graf sein. Graf Victor Lustig, seines Zeichens der berühmteste Trickbetrüger und Fälscher der Welt. Bastian Kresser greift bei der Beschreibung im wahrsten Sinne des Wortes tief in die Trickkiste: Sein Schreibstil, aber auch das Leben der gewieften Hauptfigur nehmen ungeahnte Biegungen und Wendungen.

Nichts in diesem Roman ist plan- oder vorhersehbar. Das sorgt immer wieder aufs Neue für Überraschungen. Doch warum wird jemand wie Victor Lustig überhaupt Gegenstand eines Romans. Die Herausforderung für Kresser besteht darin, dass der Ich-Erzähler seine Leserschaft so liest, wie Victor Lustig einst seine Opfer durchschaute. Er fühlt sich in die Figur ein, erfüllt den Charakter mit Leben, gibt ihm Gründe und Motive und schafft so einen bewegenden Plot. Dabei verwendet der Autor eine förmliche, geradezu elegante Sprache, durchbricht sie mit Witz und durchsetzt sie mit Pointen. Nicht zuletzt wird auch die moralische Frage aufgeworfen, wie weit man es mit den Betrügereien treiben kann bzw. darf. Literarisch betrachtet toppt Kresser den „Verkauf“ des Eiffelturms. Was das Kriminelle betrifft, bleibt Victor Lustig konkurrenzlos. CRO

In Leichtigkeit ein harter Thriller

Don Winslow ist ein Freund der Trilogien. Nach seiner Kartell-Trilogie, legt er nun nach „City on Fire“ mit „City of Dreams“ den zweiten Teil seiner USA-Trilogie vor. Der Ursprung ist eine Fehde zwischen den irischstämmigen Murphys und einem Italoamerikaner-Clan, den Morettis, zu Beginn der 1980er-Jahre an der Ostküste der Staaten. Sehr dialoglastig und zu hastig, wenn man das Backcover liest, reicht ein Direkteinstieg in Kapitel 8 auf Seite 94. Dann bekommt die Geschichte Bilder.

Nach „City on Fire“legt Winslow  mit „City of Dreams“ den zweiten Teil seiner USA-Trilogie vor.  <span class="copyright">William Morrow via AP</span>
Nach „City on Fire“legt Winslow mit „City of Dreams“ den zweiten Teil seiner USA-Trilogie vor. William Morrow via AP

Danny muss das Weite suchen. Ein groß angelegter Drogendeal ging in die Hose, und nach einem Anfall von Correctness – Danny kippte Heroin im Wert von zwei Millionen Dollar ins Meer – ist er nun auf der Flucht. Zum einen vor der Polizei, der CIA, weil ein Agent in diesem Fall verwickelt war, und den Morettis, von denen Danny das Zeug klaute. Danny flüchtet mit seinem senilen Vater nach Kalifornien und parkt ihn dort in einem Heim. Seinen Sohn übergibt er seiner Mutter, einem ehemaligen Las Vegas Show Girl mit Einfluss, und selbst muss er auf Druck vor CIA ein Haus voller Kohle abräumen. Gegenspieler „Popeye“ Domingo Abbarca soll Geld wie Heu haben, die CIA benötigt es für nicht ganz legale Operationen und Danny, mittlerweile schon schön an die Wand gefahren, braucht es, um zu überleben. Gesagt, getan! Ein im Detail geschilderter Raubüberfall und eine glückliche Fügung machen Danny und seine Crew zu stinkreichen und zugleich unbescholtenen Bürgern. Wie lange ist es jedoch für gelernte Verbrecher möglich, sich dem Müßiggang hinzugeben? Nach wie vor macht es Spaß, Don Winslow zu lesen. Sein Erfolgsprinzip ist einfach zu erklären: Er zimmert seine Romane aus den Defiziten seiner Figuren. Dazu saugt er allerhand Verbrechen auf, die gerade passieren. Das alles verkleistert er in einer unterhaltsamen Sprache zu einem Roman. Mit Spannung darf dem dritten Teil entgegengefiebert werden, in dem sich die Morettis und die Murphys ein letztes Mal gegenüberstehen werden. Bis jetzt sind seine Figuren weder von einer gewissen Altersweisheit beseelt, wie bei James Ellroy üblich, noch sind sie fragile Agenten im Zuschnitt eines James Sallis. Dann ist übrigens Schluss mit dem Schreiben, zumindest für einige Zeit, denn Winslow stellt sich ganz in den Dienst der Sache, um eine mögliche weitere Amtszeit von Donald Trump zu verhindern. MW

Das Party-Blackout

Die Studentin Leda studiert an einem US-College Astronomie. Nach dem Tod ihrer Mutter tritt Leda in die Psi-Delta-Studentinnenverbindung ein, um dem tristen Alltag zu entkommen. Auf einer Halloween-Party im Cathouse, einem Wohnheim für alternative, verbindungslose Studentinnen, trifft Leda ihren Schwarm Ian und es passiert etwas Unheimliches: Ein ihr unbekanntes, mysteriöses Mädchen will Leda aus „verganenen Zeiten“ kennen. Zwei Tage später erwacht Leda völlig verkatert und kann sich nur noch an Bruchstücke der Nacht erinnern. Und es kommt noch schlimmer: Das mysteriöse Mädchen, Charlotte, ist verschwunden, dazu ist Ledas Hals voller Knutschflecken. Überall offene Fragen: Hat sie mit Ian geschlafen? Wenn ja, war es einvernehmlich? Haben sie verhütet? Hat Leda Charlotte als Letzte gesehen? Wurde Charlotte ermordet? Anna Caritj spricht in ihrem Debütroman „Flüchtige Freunde“ ein Thema an, über das viele schweigen: Blackouts, die daraus resultierende Ungewissheit und die damit verbundenen Ängste. Der Autorin gelingt es, den Leser durch Cliffhanger in die Irre zu führen, allerdings erhoffen manche Kapitelenden mehr Input als tatsächlich kommt. Zwar weist „Flüchtige Freunde“ zu Beginn Züge eines Thrillers auf, allerdings wandelt sich der Roman im weiteren Verlauf immer mehr zu einem Entwicklungsroman – in Summe ein respektables Debüt.

Zwischen Krimi und Liebesroman

Vorarlbergerin legt neuen Spannungsroman vor.

Ein Betrunkener mitten auf der Fahrbahn, und geblendet von einem entgegenkommenden Wagen kommt Jana von der Straße ab. Erst im Krankenhaus wacht sie wieder auf. Sie lebt, nicht aber das Baby in ihrem Bauch. Jana und ihr Ehemann Felix haben sich so sehr auf die Geburt von Lukas gefreut. Felix verhält sich distanziert und kühl. Zudem zweifelt die Polizei an ihrer Aussage, denn von dem alkoholisierten Mann fehlt jede Spur. Jana ist verzweifelt, Felix distanziert sich von ihr, nur ihre beste Freundin Marlene steht ihr zur Seite. Während eines gemeinsamen Wochenendes mit Marlene erhält sie die schreckliche Nachricht: Felix ist tot. Wer auch immer Felix ermordet hat, ist nun hinter Jana her. Sie wird bedroht, die Wohnung durchsucht. Anonyme Anrufe spielen das Lieblingslied ihres toten Mannes. Und auch Marlene scheint etwas zu verbergen. Jana flüchtet nach Rostock. Dort will ihr der neue Nachbar und ehemalige Polizist helfen. Schnell knistert es zwischen Jana und dem unnahbaren und mysteriösen Niklas. Kann sie ihm vertrauen?

<p class="caption">„Geheimnisse sterben nicht“ ist der neueste Roman von Lotte R. Wöss, hier mit Autorenkollege Andreas Otter.<span class="media-container dcx_media_rtab" data-dcx_media_config="{}" data-dcx_media_type="rtab"> </span><span class="marker"> <span class="copyright">Wöss</span></span></p>

„Geheimnisse sterben nicht“ ist der neueste Roman von Lotte R. Wöss, hier mit Autorenkollege Andreas Otter.  Wöss

„Geheimnisse sterben nicht“ ist der neueste Roman von Lotte R. Wöss, die eigentlich Reingard Lieselotte Wöß heißt und in Vorarlberg lebt. Sie vermischt dabei die beiden Genres Krimi und Liebesroman. Wöss ist ein spannender, ja geheimnisvoller Roman gelungen, der beim Lesen für Nervenkitzel sorgt. Das Ende ist unerwartet. Ein Satz prägt sich ein: Vertraue niemandem, denn auch der Schatten einer weißen Rose ist schwarz. CRO

Brunettis Vergangenheit und ein anonymer Toter

Man denkt schon, es geht los mit dem Ermitteln, als plötzlich der Anruf kommt: „Guido, komm schnell.“ Aber erstmal geht es um einen lieben Kollegen, den Brunetti von einer völlig neuen Seite kennenlernt. Wie immer breitet Leon einen Teppich an Beziehungsnetzen, Venedig-Facetten und Befindlichkeiten aus, die das Morden fast in Vergessenheit geraten lassen. Bis ein Mann aus Sri Lanka tot im Wasser gefunden wird. Ein völlig unbeschriebenes Blatt.

Brunetti landet beim Stöbern in dessen Bücherregal unversehens in den 80er-Jahren, als Italien von einer Gewaltwelle linker Terroristen überzogen wurde. Verschämt denkt er daran zurück, wie er sich selbst als junger Student von Revoluzzern hat beeindrucken lassen. Es ist dieses Mal kein typisch venezianisches Verbrechen. Wie so oft bringt die clevere Polizeiassistentin Signorina Elettra das entscheidende Werkzeug ins Spiel. Elettras Stärken sind ja legendär. Mit ihrer neuen Software kommt ein vor Jahrzehnten bestehendes Beziehungsgeflecht zwischen Personen ans Licht, die bei den Ermittlungen aufgetaucht sind. Inmitten des Geflechts: eine Entführung in den 80er-Jahren. Das Opfer ist nie wieder aufgetaucht. Wie der Mann aus Sri Lanka in diese Gemengelage passt, entwirrt Brunetti in gewohnt eleganter Manier. Ohne einen Hehl daraus zu machen, dass er den Verdächtigen nicht mag. Er geht nicht unvoreingenommen an die Ermittlungen. Sein moralischer Kompass wird dabei ziemlich deutlich. Brunetti macht eine Entwicklung durch.

 Autorin Donna Leon im Rahmen der Frankfurter Buchmesse. <span class="copyright">APA/Deutsche Presse-Agentur GmbH/Sebastian Gollnow</span>
Autorin Donna Leon im Rahmen der Frankfurter Buchmesse. APA/Deutsche Presse-Agentur GmbH/Sebastian Gollnow

Der 32. Fall von Donna Leons Commissario Brunetti ist wie gewohnt spannend geschrieben und nimmt den Leser schon nach wenigen Seiten gefangen. Der Aufbau der Handlung ist klar strukturiert, überrascht aber mit ungewöhnlichen Wendungen und Ereignissen. Die Spannung bleibt bis zum Ende hoch. Wie immer bei Donna Leons Brunetti fliegen die Seiten nur so dahin. Einmal angefangen, kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Wie schon in den letzten paar Büchern kommt der Kommissar auch in diesem etwas melancholischer rüber. Immerhin wird auch er älter und damit reflektierter. Schön, dass er sich entwickeln darf. CRO

„Worte, die zum Himmel fliegen“

Der Lyriker Dinçer Güçyeter ist der Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie und zählt zu den erfolgreichsten Dichtern Deutschlands. In seinen Werken geht es um die Fragen nach Identität und Kompromiss in Bezug auf die türkisch-deutsche Einwanderungsgeschichte. Jetzt hat der 43-Jährige erstmals einen autobiografisch grundierten Roman geschrieben. Für „Unser Deutschlandmärchen“ erhielt er dafür den renommierten Preis der Leipziger Buchmesse in der Belletristik-Sparte. Güçyeter erzählt die Geschichte seiner Eltern, die in den 1960er-Jahren als türkische Gastarbeiter nach Nordrhein-Westfalen kamen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben. „Denn hier in Deutschland werden Arbeitskräfte gebraucht, in den Bergwerken und in den Schuh- und Teppichfabriken.“

Die Eltern arbeiteten viel, und sie siedelten sich dauerhaft in Nettetal an, einem Städtchen an der niederländischen Grenze. Er selbst nennt die Geschichte ein „Mutter-Sohn-Duett“. In kurzen, oft lyrischen Episoden entfaltet der Autor ein Zwiegespräch zwischen ihm und seiner Mutter Fatma, die als Fabrikarbeiterin das Geld verdient, während Vater Yilmaz mit seiner Kneipe ständig in die Schulden rutscht. Es ist ein Roman über Familie und Migration, das Porträt einer ganzen Generation von Gastarbeitern und auch ein Porträt seiner eigenen Mutter Fatma. Von einem besseren Leben weit entfernt, handelt es von Arbeitsunfällen, langen Krankenhausaufenthalten und einer Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen, für die es keine Heilung gibt. „Letztendlich ist es fremdes Land, du bist der Gast, der produzieren soll, dein Platz ist befristet, solange du funktionierst“, stellt Fatma lakonisch fest. Güçyeter denkt und lebt im Dazwischen der deutschen Heimat und den türkischen Wurzeln. Spielerisch mischt er Form und Inhalt. So gelingt ihm ein großer Wurf. Er klagt nicht an, sondern setzt auf ungewöhnliche und variable erzählerische Mittel, flechtet Lieder ein, Gedichte, theaterhafte Szenen, Gebete und Träume.

Die Jury würdigte das Buch in ihrer Begründung als einen Roman, „der die Worte zum Himmel fliegen lässt und die Demütigungen am Boden nicht ausspart“. CRO

Dinçer Güçyeter gewann in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse in der Belletristik-Sparte.   <span class="copyright">APA/dpa/Hendrik Schmidt</span>
Dinçer Güçyeter gewann in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse in der Belletristik-Sparte. APA/dpa/Hendrik Schmidt

Die Freizügigkeit der 1920er-Jahre

Spätestens seit dem Welterfolg von Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ gehören literarische Wiederentdeckungen zum festen Bestandteil vieler Verlagsprogramme. Der Verlag „Das vergessene Buch“ hat sich – wie der Name schon sagt – sogar darauf spezialisiert. Verleger Albert Eibl greift bei der Auswahl seines Verlagsprogramms tief in die literarische Schatzkiste. „Während meines Studiums erwähnte der Professor einmal den Namen Maria Lazar, die eine bedeutende Stimme im Widerstand gegen die Nazis gewesen sei“, berichtet der Germanist. Doch sie sei aus dem kollektiven Bewusstsein völlig gelöscht worden. Damit sich das ändere, veröffentlichte er als ersten Roman seines neu gegründeten Verlags „Die Vergiftung“. Lazar schrieb ihn als gerademal Zwanzigjährige und rechnete gnadenlosest mit der bürgerlichen Lebenswelt in Österreich vor Beginn des Ersten Weltkriegs ab. Das Debüt ist einer der überzeugendsten weiblichen Beiträge zum literarischen Expressionismus und der Wiener Verleger durfte einen Erfolg feiern.

Es blieb aber nicht bei dieser Lazar-Veröffentlichung. 2015 folgte „Die Eingeborenen von Maria Blut“, 2020 „Leben verboten!“ und aktuell, 2023, „Viermal ICH“. Hier handelt es sich genau genommen nicht um ein vergessenes, sondern um ein noch nie erschienenes Buch. Die Autorin bot es zwar einigen Verlagen an, leider aber vergeblich. Eibl, der im September 2022 Lazars Nachlass in Großbritannien sichten konnte, tat also, was bisher nicht getan wurde. „Viermal ICH“ handelt von vier Freundinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und deren Schicksale dennoch von der Schulzeit bis ins Erwachsenenalter untrennbar miteinander verwoben bleiben. Der Roman, den Lazar Ende der 1920er-Jahre geschrieben hat, ist sprachlich, aber auch von der psychologischen Raffinesse her so modern, dass man annehmen könnte, er wäre heute verfasst worden. Die präzisen Schilderungen der damligen Umwälzungen in der Gesellschaft, die psychoanalytisch geschulte Beobachtung von Figuren und Motiven und nicht zuletzt Schreiben als Waffe weiblicher Selbstermächtigung. Im Mittelpunkt stehen vier Freundinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und deren Schicksal trotzdem untrennbar miteinander verbunden ist. Als junge, unabhängige Frauen erforschen sie das Leben und spannen sich gegenseitig die Männer aus. Es wird wohl nicht der letzte Roman von Lazar sein, den der Verlag „Das vergessene Buch“ publiziert. Die Wiederentdeckung wird eine Fortsetzung finden. CRO

Blick auf das Leben während der Stalinzeit

In “Tagebücher: Band I (1940-1941)” wirft Georgij Efron, Sohn der berühmten russischen Dichterin Marina Zwetajewa, einen intimen und fesselnden Blick auf das Leben in der Stalinzeit und das Schicksal seiner Mutter, die zu den bedeutendsten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts zählt.

Dieses außergewöhnliche Buch ist ein Zeitdokument, das uns einen erschreckend authentischen Einblick in die Unterdrückung und das Elend der sowjetischen Gesellschaft jener Jahre gibt. Efrons Aufzeichnungen sind nicht nur von beeindruckender literarischer Qualität, sondern auch von bemerkenswertem Mut, denn kaum jemand wagte es damals in der Sowjetunion, seine Gedanken und Einschätzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse so offen und unbekümmert niederzuschreiben.

Diese wissenschaftliche Ausgabe, übersetzt von Gertraud Marinelli-König, bietet sowohl eine getreue Wiedergabe des Originals als auch einen informativen Kommentar, der zum besseren Verständnis des historischen und kulturellen Kontextes beiträgt.

Ein bewegendes und zugleich erhellendes Buch, das uns einen tieferen Einblick in eine Epoche gewährt, die oft verdrängt und missverstanden wird. Eine Pflichtlektüre für alle, die sich für die dunkle Geschichte der Sowjetunion unter Stalin interessieren. Dieses Buch vermittelt nicht nur ein tiefes Verständnis für die damalige Zeit, sondern lässt uns auch die Tragödien, die diese Menschen durchlebt haben, intensiv miterleben. AMA

Bret Easton Ellis kehrt mit “The Shards” in Bestform zurück

Der siebzehnjährige Bret, Oberstufenschüler an der renommierten Buckley Prep School, sieht sich plötzlich mit einem neuen Mitschüler konfrontiert. Robert Mallory ist intelligent, gut aussehend und besitzt eine gewinnende Ausstrahlung, der Bret auf unerklärliche Weise verfällt. Obwohl er fest davon überzeugt ist, dass Robert ein dunkles Geheimnis hütet, kann er nicht verhindern, dass er in seinen Freundeskreis eindringt. Als der Trawler, ein Serienmörder, der Jugendliche grausam ermordet, immer bedrohlicher in Brets Nähe rückt, gerät er zunehmend in einen Strudel aus Paranoia und Einsamkeit. Doch wie vertrauenswürdig ist Bret als Erzähler?

"The Shards": brillante Mischung aus Suspense, scharfer Gesellschaftskritik und psychologischer Tiefe.   <span class="copyright">Knopf via AP</span>
"The Shards": brillante Mischung aus Suspense, scharfer Gesellschaftskritik und psychologischer Tiefe. Knopf via AP

Mit “The Shards” präsentiert Bret Easton Ellis eine brillante Mischung aus Suspense, scharfer Gesellschaftskritik und psychologischer Tiefe. Durch die komplexe Erzählstruktur und den unzuverlässigen Erzähler wird das Geschehen mit einem Gefühl des Unheimlichen unterlegt, das den Leser bis zur letzten Seite in Atem hält. Ein Buch, das sowohl Fans von Easton Ellis als auch Neueinsteiger in seinen Kosmos begeistern wird. AMA