Auf der Suche nach Heimat

Kultur / 08.09.2023 • 17:27 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
18 Kilometer bis nach LjubljanaGoran Vojnović, Folio Verlag, 316 Seiten

18 Kilometer bis nach Ljubljana

Goran Vojnović, Folio Verlag, 316 Seiten

Viel verändert sich, wenn man nach zehn Jahren in die Heimat zurückkehrt, manches bleibt gleich.

Roman Marko ist Serbe, ein Teil seiner Familie lebt in Bosnien, der andere in dem slowenischen Städtchen Fužine, in dem er aufwuchs – Marko hat schon immer mit seiner Zugehörigkeit zu kämpfen. Als 18-Jähriger beschließt er, seine Karriere als Basketballspieler zu beenden, Slowenien zu verlassen und zu seinen Großeltern nach Bosnien zu ziehen. Zehn Jahre später kehrt er zu seinen Eltern und Freunden nach Fužine zurück. Dort angekommen, merkt Marko sofort, dass das Städtchen nicht mehr das ist, was es einmal war. Aus mitteleuropäischer Sicht würde man sagen, Fužine verliert seine Balkan-Ostblock-Scham: Die Lifte sind nicht mehr vollgekritzelt, ein Einkaufzentrum nach dem anderen wird gebaut und anstatt in einem Trainingsanzug – dem osteuropäisch-jugoslawischen Symbol schlechthin – abzuhängen, müssen Familienväter hart schuften, um die Kreditraten fürs Eigenheim abzubezahlen. Konfrontiert mit den Veränderungen, der Suche nach seiner Heimat, reitet sich Marko in illegale Geschäfte: Für 200 Euro soll Marko mit einem Freund gemeinsam eine mysteriöse Fuhre von der bosnischen Grenze nach Slowenien schmuggeln. Und wäre das nicht genug, erfährt Marko, dass sein Vater an Darmkrebs leidet und operiert werden soll.

Mit „18 Kilometer bis nach Ljubljana“ schafft es Goran Vojnović, den Leser mit frech flottem, sarkastischem Jugendslang mit Wiedererkennungswert in Markos Alltag als „Tschefur“, einem in Slowenien lebenden Serben, zu entführen und in seinen Bann zu ziehen. Dabei spricht Vojnović große Themen wie die Diskriminierung der „Tschefuren“, ihre Auswirkung und die religiösen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien an. Mit Marko erzeugt der Autor einen sympathischen jungen greifbaren Mann mit Identifikationspotenzial. Nach „Tschefuren raus!“ ist „18 Kilometer bis nach Ljubljana“ eine durchaus gelungene Fortsetzung, die auch als Einzelwerk in sich schlüssig ist.

Radikales Sommermärchen

Tess Gunty, Newcomerin des Jahres, fährt laut wie eine Kreissäge durch die Gewohnheiten und den Einheitsbrei der Literatur. „Der Kaninchenstall“ nennt sich der Roman und gemeint ist eine ehemalige Industriehalle im US-Bundesstaat Indiana, die notdürftig zu einem schäbigen Appartementblock umgebaut wurde. Dort leben Joan, eine extrem gläubige Online-Nachrufe-Dienst-Betreuerin, Moses Blitz, Sohn einer verstorbenen Kinderstarikone aus den 1950er-Jahren, Hope, die als Mutter nicht mehr ins Leben zurückfinden, ein alterndes Ehepaar, das sich rühmt, im Kaninchenstall Eigentum gefunden zu haben und „der Mann“, der schon zu Beginn einen bedrohlichen Schatten über Blandine wirft.

Blandine schleppt diesen Karren voller Originale über 416 Seiten, glaubt selbst eine Auserwählte zu sein, mit einem Spleen für Hildegard von Bingen, die im Grunde nur eines will: ihren Körper verlassen. Zum herausragenden Stilmittel wurden die Comedy-Einschübe und das Gefühl an einer entgleitenden Late-Night-Show teilzunehmen. Es ist eine Verarbeitung der amerikanischen Realität abseits der betuchten Plätze.

Wäre der Roman in einem Kleinverlag herausgekommen, er hätte das Feuilleton nicht wachgerüttelt, aber Gunty durchschritt die Wege, studierte Kreatives Schreiben an der NYU, veröffentlichte im New Yorker Alfred A. Knopf Verlag und ergatterte als Außenseiterin den National Book Award 2022. Auch im deutschsprachigen Raum gilt sie als Blitzstarterin. Das Buch erschien bereits in zweiter Auflage. Klingt wie ein Newcomer-Märchen!

Der ­KaninchenstallTess Gunty, KiWi Verlag, 416 Seiten

Der ­Kaninchenstall

Tess Gunty, KiWi Verlag,
416 Seiten