Verena Konrad

Kommentar

Verena Konrad

Notwendige Experimente für die Bauwende

Kultur / 27.09.2023 • 20:18 Uhr / 5 Minuten Lesezeit

Das Bauen ist schon längst kein Experimentierfeld mehr – zu viel Investment und zu viele Ansprüche kommen hier zusammen. Wer möchte schon in einem Haus mit schiefen Wänden wohnen? Unter einem Dach, das undicht ist, mit Fenstern, die nicht richtig schließen? Ein Lob auf das solide Handwerk! Bauschäden zu vermeiden ist das oberste Ziel, natürlich. Sicherheit, Kalkulierbarkeit, selbstverständlich! Doch was, wenn es um mehr geht als nur um Standard? Ich bin überzeugt, wir brauchen diese mutigen Felder, in denen sich das Handwerk und das Bauen wieder zurückbesinnen und erneuern – in denen es nicht nur um Produkte und deren Einsatz geht, sondern um Funktionen, um das Wieder-Erlernen alter Techniken und um das Tragen einer gemeinsamen Verantwortung. Um das Erfahren von Sinnhaftigkeit, indem das Resultat wie auch der Prozess so inspirierend sind, dass es einfach nur Freude macht, ein Teil davon zu sein.

Vor wenigen Wochen hatte ich eine Begegnung, die ich so schnell nicht vergessen werde. Ich war eingeladen von einem jungen Paar, das ein über ein halbes Jahrtausend altes Haus mit eigenen Händen und dem Erfahrungswissen der Vielen wieder bewohnbar und nutzbar gemacht hat und dabei etwas geschaffen hat, das um so Vieles größer ist, als nur ein Dach über dem Kopf. Es ist ein Dach für viele Köpfe, viele Hände, vor allem für viele Herzen. Selten habe ich eine Baustelle als so liebevollen Ort erlebt, fern jeder Hektik, trotz all der Anstrengung, dem Anspruch an ein gelungenes Ergebnis, professionell, ja, aber auch offen – ein Ort des Lernens, Teilens, was für ein Fest!

Wie viele Häuser hat auch dieses Gebäude einen „Hausnamen“, der einen Hinweis auf seine ehemaligen Bewohner:innen gibt: Hägi Wendls. Die Bauleute haben eifrig recherchiert. Nicht nur die Bau- sondern auch die Familiengeschichte. Namen, Jahreszahlen, Dorfgeschichte – und dabei Entdeckungen gemacht, die nicht nur mit Bautechnik und Materialeinsatz zu tun haben. Mit seinen 550 Jahren gehört Hägi Wendls zu den ältesten Wohn- und Wirtschaftsbauten des Landes. Wie stets und überall auf dem Land wurde hier über die Jahrhunderte eifrig um- und weitergebaut und so ist der aktuelle Umbau nur einer von vielen und vermutlich auch nicht der letzte.

Die Bedeutung von Hägi Wendls liegt tatsächlich in seiner Zeitzeugenschaft, denn es öffnet sowohl einen Blick in die Vergangenheit und durch seine heutige Gestalt und Funktion in die Gegenwart, besonders aber in die Zukunft, indem es als Lernfeld dient – für die Anwendung lokaler und natürlicher Materialien, das Erlernen von alten Handwerkstechniken, die Sanierung alter Bausubstanz und damit die Zukunftsfähigkeit dieser Gebäude. Hägi Wendls hat die Tore geöffnet. Als erste und einzige offene Baustelle in Vorarlberg haben die Bauleute ihren Lernprozess und ihr Ringen um gute Lösungen einem kollektiven Lernen geöffnet. Nachbar:innen, Dorfbewohner:innen, Spaziergänger:innen, Neugierige haben hier mit Hand angelegt, geschaut, gestaunt, mitgedacht – und ganz wesentlich Studierende des Lehrgangs BASEhabitat der Kunstuniversität Linz, einem Lehrgang, der Architektur und Handwerk verbindet und sich einem sozialen wie ökologischen Anspruch gleichermaßen stellt. Die Material- und Bauwende kann nicht nur theoretisch geschehen und ohne Experimentierfelder wie diese wird sie nicht gelingen!

Und als wäre das alles nicht genug des Guten: Hägi Wendls ist groß, zu groß, um nur darin zu wohnen, und so teilt die Familie auch Raum und öffnet die Scheune für ein herausragendes Kulturprogramm, das hoffentlich nach einer ersten Saison schon bald in eine neue geht.

Verena Konrad

verena.konrad@vn.at

Verena Konrad ist Kunsthistorikerin und Direktorin des vai Vorarlberger Architektur Institut.