„Genderwahn?“

Leserbriefe / 03.04.2023 • 20:25 Uhr / 2 Minuten Lesezeit

Wenn man die Geschichte der deutschen Sprache näher betrachtet, wird die Aufregung um das Gendern vielleicht etwas abflauen. Nicht das generische Maskulinum ist die jahrhundertelang verwendete Praxis, sondern eine strikte Trennung zwischen männlichen und weiblichen Bezeichnungen. Schon in mittelalterlichen Amtsbriefen heißt es „Zunftvorsteherin des Garnmacherinnenamtes“ oder „Webermeisterin“. Noch im 16. Jh. waren Begriffe wie „Teutschin“, „Verwandtin“ oder „Geliebtin“ in Gebrauch, Quellen berichten in der weiblichen Form von Ärztinnen, Chirurginnen oder Apothekerinnen, ohne die wir nicht wüssten, dass Frauen in diesen Berufen tätig waren, bevor sie daraus verdrängt wurden. Erst zu Beginn des 19. Jh. betonte Jacob Grimm in seiner Deutschen Grammatik, dass das Maskulinum die „lebendigste, kräftigste und ursprünglichste“ unter allen grammatikalischen Geschlechtern sei und deshalb Frauen auch durch ein männliches Substantiv vertreten werden könnten – „Frauen sind mitgemeint“ war geboren. Weil sie aber nur mitgemeint und nicht mitgedacht wurden, entstand im Laufe der Zeit der falsche Eindruck, sie hätten auch in Wissenschaft und Kultur nichts geleistet: Dichter, Forscher, Philosoph, Erfinder etc. wird automatisch mit einem Mann assoziiert und hat deshalb auch zu einem Geschichtsbild beigetragen, das den Anteil der Frauen marginalisiert oder geleugnet hat. Fazit: Die Veränderung der Sprache ist ein wichtiger Prozess, der Veränderungen in der Gesellschaft widerspiegelt.

Roswitha Fessler, Dornbirn

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