Österreichs Süden ist der globale Norden

Die Erfahrung, einer von vielen zu sein, kann einsam machen.
Darum geht’s:
- Schöne Fahrt über den Arlberg und durch das Pustertal
- Einsamkeit in St. Veit in Defreggen
- Besuch in Innervillgraten und eher untypischer Zwischenstopp in Klagenfurt
Schwarzach Es ist meinem Verständnis nach keine Reise, dafür fehlt die Weite, es ist ein Ausflug, ein paar Tage unterwegs sein. Eine Reise ist es dennoch insofern, als Sehnsucht, Nostalgie, Träume, Phantasie und Emotionen im Spiel sind. Die Fahrt geht eines Sommersonntagmorgens über den Arlberg nach Innsbruck. Dort verlasse ich das hiesige Schnellstraßensystem, um mich dem italienischen erst gar nicht anzuvertrauen. Auf der alten Brennerstraße überquere ich die Staatsgrenze nach Italien, Outletparadies und Massenverkehr im Wortsinn links liegen lassend. Dafür gedenke ich Goethens, der am 8. September 1786 hier gefahren ist; „Von Innsbruck herauf wird es immer schöner, da hilft kein Beschreiben“, heißt es zu Beginn seiner Italienischen Reise. Ähnliches denke ich mir bei der Fahrt hinunter Richtung Franzensfeste und dann hinein ins Pustertal. Dort allerdings verlangt der Autoverkehr so viel Aufmerksamkeit, dass sich das Beschreiben wiederum erledigt. Ganz schnell wird das anders und geradezu goetheanisch beschaulich nach der Abzweigung Richtung Stallersattel. „Es liegen Dörfer, Häuser, Häuschen, Hütten, alles weiß angestrichen, zwischen Feldern und Hecken auf der abhängenden hohen und breiten Fläche.“ (Goethe) Genau! Die Abendsonne illuminiert Wälder und Wiesen und leuchtet tief ins Gemüt, und der Espresso kostet plötzlich nur noch 1,50 Euro.

Im Osttirol endet der Tag hoch oben in St. Veit in Defreggen. Hier ist es quasi totenstill, was nicht nur am Friedhof liegt, an dessen Mauer ich parke. Dass du ins Auto (vom Flugzeug gar nicht zu reden) sitzen und viele Kilometer fahren musst, um irgendwo anzukommen, wo das Auto kein Thema mehr ist, wird leider mehr und mehr zum Dilemma, zur Absurdität.

Am nächsten Tag fahre ich im weiten Bogen zuerst nach Osten, dann wieder nach Westen, Lienz ist der Drehpunkt. Das Ziel ist Innervillgraten: Ich will das endlich einmal sehen; hauptsächlich verdankt sich der Wunsch der Musik, die von dort kommt. Vorher bin ich nach 46 Jahren wieder in Lienz, bin kein junger Mann mehr wie 1977 als Präsenzdiener und finde mit Müh und Not den Hauptplatz, mich aber dort dann gut zurecht: Es ist ja zum Glück eine gewisse Weltgewandtheit dazugekommen in der langen Zeit, und die ist gut zu gebrauchen beim Frühstück am noblen Lienzer Hauptplatz. Auf der Pustertaler Höhenstraße gehen mir die Augen auf und über, denn hier fahre ich kaum mehr als Tourist; hier kannst du dich nicht einfach hinsetzen und blöd schauen: Du musst es ernst meinen mit dem Hiersein, sonst wird das nichts. Man ist somit keiner von denen, die wie Heuschreckenschwärme überall dort einfallen, wo sie ihresgleichen finden: „Heute wird überhaupt viel zuviel gereist. Rudelweise brechen die Leute in fremde Landschaften ein, ohne Scheu, als seien sie die legitimen Besitzer.“ (Robert Walser)

„Ja, wichtig ist nur die Reise zu sich selbst.“ (derselbe) So belasse ich es schließlich bei einem Besuch in Klagenfurt, von Hermagor aus mit dem Zug. Ob sich dabei das Gewissen durchsetzt oder die Bequemlichkeit, bleibt offen. Die wegen des Regens vorgezogene Rückreise führt in hochalpine Regionen: Glocknerstraße, Gerlos- und Arlbergpass. Die Frage, was ich dort verloren oder zu suchen habe, stellt sich unausweichlich. Noch finde ich Antworten, die ich für umweltverträglich und enkeltauglich halte. Aber zugegeben, sie kommen nicht von selbst und gelten nicht für immer.
Peter Natter