Hysteriebremse
Wir leben in schnellen und lauten Zeiten. Auf der Straße, im Privatleben, im Beruf, in der Politik, in der Medienwelt. Kleine Nachrichten werden zu großen Skandalen, Überschriften mit Ausrufezeichen garniert, noch bevor Hinter- und Beweggründe bekannt sind. Die Gesellschaft hysterisiert sich. Aber nicht alles, was im ersten Moment den Puls in die Höhe schnellen lässt, bewahrheitet sich. Drei Beispiele:
Erstens: Schlimm genug, dass ein Mensch in Vorarlberg einen Kalaschnikow-Nachbau besitzt. Noch schlimmer, dass er das Schnellfeuergewehr in die Hand nimmt und Amok läuft. Diese Tat ist unfassbar tragisch, nicht zu verstehen. Einen Tag danach wird erkannt: Der Täter ist Neonazi und einschlägig bekannt. Ein Nazi läuft Amok. Was für eine Schlagzeile. Politisch, emotional, Hysterie fördernd. Aber die Kausalität ist nicht herstellbar. Die eigentlichen Fragen wären: Weshalb besitzt jemand so eine Waffe? Weshalb horten Menschen in Vorarlberg überhaupt Waffen? Warum ermordet jemand kaltblütig unschuldige Menschen? Weshalb gibt es immer noch Neonazis im Land? Gedanken ordnen, richtige Fragen stellen. Übrigens: Kaum vorzustellen, wäre diese Tat von einem Mann muslimischen Glaubens verübt worden. Hysterie hoch zehn.
Zweitens: Österreich ist gespalten. Die eine Hälfte wählte grün, die andere Hälfte blau. Experten wie Stammtischrunden wussten: Graben, Riss, Spalt; Hauptsache tief. Schon der Arithmetik hält dieser Befund nicht stand. Österreich wäre höchstens gedrittelt, ein Drittel wählte gar nicht. Oder gar geviertelt. Von 8,7 Millionen Einwohnern waren 6,3 Millionen wahlberechtigt. Ein Hofer-Wähler und ein Van-der-Bellen-Wähler sind im Wahlkampf oft aneinandergeraten. Sie haben Hasch-Trafiken und Faschismusgefahr herbeihysterisiert. Sie kennen sich schon lange, mögen sich eigentlich, sie spielen sogar zusammen Fußball, sind politisch unterschiedlicher Meinung, aber kein Spalt.
Drittens: Was geschieht, wenn TTIP beschlossen wird? Wir müssen Chlorhuhn essen, genmanipulierter Monsanto-Mais wird unsere Felder erobern, private Schiedsgerichte werden zugunsten von Konzernen entscheiden. Tasächlich? Das Freihandelsabkommen bietet eine breite, berechtigte Angriffsfläche. Van der Bellen versuchte im Wahlkampf, das Thema differenziert anzugehen, auch über Vorteile zu sprechen. Das war wahltaktisch unklug, er musste seine Position ändern.
Ja. Neonazis haben in Vorarlberg nichts verloren. Österreichs politische Welt ist polarisiert. TTIP bietet viele Gründe, es abzulehnen. Diese Themen regen zurecht auf. Aber Hysterie schadet jeder Debatte. Nicht jeder Allahu-Akbara-Schreier ist ein Gesandter des IS. Und nach einem Anschlag nach Verboten zu schreien und eine ganze Glaubensgemeinschaft zu verurteilen, ist Hysterie at it’s best. Durchatmen, nachdenken, analysieren und die notwendigen, sachlich fundierten Maßnahmen in die Wege leiten.
Schon der Arithmetik hält dieser Befund nicht stand. Österreich wäre höchstens gedrittelt oder gar geviertelt.
michael.prock@vorarlbergernachrichten.at,
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